Den großen und schweren Bildband „XL Photography 3. Art Collection Deutsche Börse“* hatte ich mir eigentlich wegen einer Arbeit von Sibylle Bergemann angeschafft, bin beim Durchsehen der ganz unterschiedlichen Serien dann aber am eindrucksvollen Bild eines verlassenen Kriegsschiffes hängen geblieben.
In der Buchreihe „XL Photography“ gibt die Gruppe Deutsche Börse Einblicke in den Bestand ihrer Fotosammlung, die in den letzten Jahren vor allem um großformatige Werke zeitgenössischer Künstler erweitert wurde. Im dritten Band werden 17 Künstler mit ihren Arbeiten sowie jeweils Einführungstexten und Kurzbiografien vorgestellt.
Darunter ist auch Simon Roberts, der sich als Brite, der erst 16 Jahre alt war, als die Sowjetunion zerbrach, mit dem „großen und geheimnisvollen Land“ Russland fotografisch auseinandersetzte. Dabei hatte er sich viel vorgenommen: Über ein Jahr lang bereiste er abseits der russischen Ballungszentren das Land, um eine „Bestandsaufnahme des modernen Russlands“ anzufertigen.
Aber selbst ein Jahr ist zu kurz für so ein großes Land: Roberts hat sich in Russland sehr wohlgefühlt, aber bei Weitem nicht alles gesehen, was es dort zu sehen gibt. Am Ende ist daraus unter dem Titel „Motherland“* ein 153 Bilder umfassendes Buch geworden, das inzwischen ausverkauft, aber noch gebraucht ab ca. 70 € oder als PDF-Download für 1 £ zu haben ist.
Am Bild dieses aufgegebenen Kriegsschiffes, das in der Kola-Bucht bei Murmansk liegt, blieb mein Blick beim Blättern dann erst einmal hängen, während ich alle anderen Bilder davor und danach innerhalb weniger Sekunden erfasst und durchschaut zu haben meinte. Aber das tiefe Blau der Szene nahm mich länger gefangen.
Die ganze Kulisse ist von einem so winterlichen Blau, dass die Kälte wie eine Welle eisiger Luft aus dem Bild zu mir herauszuschwappen scheint. Natürlich wird das Gefühl noch vom im Bild sichtbaren Schnee, Eis und der hinter den Schiffsleichen stehenden Nebelwand unterstützt.
Keine Menschenseele ist zu sehen. Ich stelle mir vor, wie Simon Roberts allein neben den Schiffswracks stand – nein, eigentlich – wie ich in der absoluten Stille der überfrorenen, in Winterschlaf gezwungenen Szene die schneidend kalte, russische Winternebelluft einatme. Mich faszinieren die eisigen Blautöne, die von tiefstem Fastschwarz auf der Schiffswand bis hin zu klarem Weiß im Schnee reichen.
Und die vielen Details, die ich mit den Augen erkunden kann: Von hier nach dort verlaufende Seile, überfrorene Leitern waren einmal Wege und auf der Schiffshaut liegt eine scheinbar nur ganz dünne Raureifschicht, die in mir die Vorstellung auslöst, dass sie unter der Berührung meiner warmen Finger wegschmelzen würde, wie ich es von Eisblumen auf Autolack in unseren milden europäischen Wintern kenne.
Mehr aus der sehr sehenswerten Serie von Roberts’ Russland-Projekt gibt es auf seiner Webseite zu lesen und zu sehen. Neben beeindruckenden Landschaften, für unsere Augen seltsam anmutender Architektur und Alltagsszenen gibt es auch viele, sehr unterschiedliche Portraits der Menschen zu sehen.
Auch Roberts’ andere Serien sind spannend und einige sehr experimentell. Seine Webseite ist definitiv ein Ort, an dem man sich mit einer Tasse Tee oder Kaffee mal für ein paar Stunden sehr gepflegt verlieren kann, was ich Euch hiermit sehr ans Herz lege.
Informationen zum Buch
„XL Photography 3. Art Collection Deutsche Börse“*
Fotografen: Paul Almasy, Jessica Backhaus, Sibylle Bergemann, Pietro Donzelli, Alberto Garcia Alix, Seydou Keï ta, Yoon Jean Lee, Boris Mikhailov, Simon Norfolk, Martin Parr, Simon Roberts, Ricarda Roggan, Wilhelm Schürmann, Alfred Seiland, Malick Sidibé, Alec Soth, Joel Sternfeld
Verlag: Hatje Cantz
Seiten: 144
Sprache: Englisch und Deutsch
Maße: 32,1 x 31,7 x 2,1 cm
Einband: Hardocver, gebunden
Preis: neu 49,80 €, gebraucht ab ca. 14 €
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kwerfeldein – Fotografie Magazin
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