Wenn ich entscheiden muss, welches Bild ich blickfangen will, zucke ich bei bestimmten Fotobänden aus Angst, dem Fotografen nicht gerecht zu werden, empfindlich zurück. „The Suffering Of Light“* von Alex Webb ist so ein Buch. Ich schiebe es also wieder zurück und zupfe die nächsten Bücher aus meinem Regal.
Doch jetzt überwinde ich mich, spaziere mit den Fingern zurück und greife mir das Prachtwerk noch einmal heraus. Lege es behutsam auf meinen Schreibtisch, ziehe den Stuhl heran und beuge mich über den Bildband. Ich beginne, zu blättern und bin von einer Sekunde auf die nächste abgetaucht. Doch kaum bin ich über die ersten zwanzig Bilder hinweggeflogen, stelle ich nachdenklich fest, warum ich eigentlich so viel Respekt habe. Es gibt fast kein Foto, das mich nicht beeindruckt.
Alex Webb hat einen derart spannenden Stil, dass er an kompositorischer Dichte kaum zu überbieten ist. Jedes Bild birgt ein Geheimnis, trieft nur so von Farbe und bietet sich an, im Blickfang vorgestellt zu werden. Doch Sinn und Zweck des Blickfangs ist nun einmal, nur ein einziges Bild zu zeigen. Verdammt. Ich komme nicht drum herum.
Was also tun? Ich muss wohl das nächste Bild auswählen, das mich anspricht und Frage widerstehen, ob es nicht noch hundert weitere Bilder gibt, die viel besser sind. Ich habe es schnell gefunden.
Auf den ersten Blick sehe ich einen Mann mit Hut. Hangle mich dann entlang der Metallspitzen zum Ende der Mauer, erblicke die Nasenspitze einer Frau, doch das klare Gesicht des Protagonisten zieht meine Augen wieder zurück. Hier geblieben, Freundchen! Dann schweife ich wieder ab und erspähe jemanden auf dem Boden. Beine übereinandergeschlagen, vom Dreck umgeben. Und dann wird mir erst klar: Ein Großteil des Bildes ist schwarz.
„Die Sonne muss tief gestanden haben, als Du dieses Bild gemacht hast“, spreche ich innerlich zu Alex. Ja, ich habe diese (für andere) seltsame Angewohnheit, mich mit Menschen in Bildern (oder denen, die sie machen) zu unterhalten. Es ist meine Art, mit Gesehenem umzugehen, es zu reflektieren und – nein, ich habe nicht vor, das zu ändern.
„Das hast Du gut getroffen. Ich beneide Dich um Dein gutes Auge.“ Die warmen Farben mag ich sehr, wenngleich sie auch nur angedeutet sind. Der tiefe Stand der Sonne hüllt alles in ein warmes Gold und der gelbe Hut des Paraguayers sticht fröhlich heraus. Jetzt merke ich, dass ich aufpassen muss. Nicht zu viel hinein zu interpretieren in ein Bild, von dem ich nicht weiß, was Alex sich gedacht hat. Doch ein Weilchen bleibe ich noch.
„In Deinem Rücken muss die Sonne gestanden haben. Hättest wohl um ein Haar Deinen Schatten im Bild gehabt, stimmt’s?“ Ich bin schon wieder beim Gesicht des Mannes mit dem Hut. „Ob er Dich bemerkt und sich kurz vor dem Klick zu Dir umgedreht hat?“ Möglich. Plötzlich fällt mir ein interessantes Detail im Bild auf: Der Mann mit Hut ist in seiner Ganzheit wohl der einzige Fleck im Bild, der sauber ist. Der Hut ist sauber, sein Gesicht ist sauber (rasiert) und das angeschnittene Hemd ist fleckenfrei.
Alles andere ist dreckig. Alt oder kaputt. Zerstört oder am Boden. Ein Gegensatz, der nur subtil wirkt. Aber er wirkt.
Das Foto wurde 1990 in Asunción, Paraguay aufgenommen. Und ich kann jedem, der sich ernsthaft mit der Straßenfotografie auseinandersetzen möchte und sich mit dem einzelnen Bild genauso wie ich angefreundet hat, empfehlen, das ganze Buch* zu kaufen.
Jetzt habe ich sie ein wenig verloren. Meine Angst vor den großen Bildbänden. Der Respekt ist jedoch ein Stückchen gewachsen.
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