Wie im Artikel „Unsere liebsten Bildbände“ bereits geschrieben, ist einer meiner Schätze ein großer, schwerer Klotz namens „Lewis Carroll, Photographer“* von Roger Taylor und Edward Wakeling, der auf den Fotografen Charles Lutwidge Dodgson eingeht, der nebenher noch Mathematiker, Diakon und einer der berühmtesten Kinderbuchautoren der Welt war.
Er war ein Naturwissenschaftler und Oxford Man, aber auch ein spielerisch denkender Geist und Bewunderer von Schönheit in vielen Formen. Er löste hochkomplexe mathematische Rätsel und scheiterte gleichzeitig daran, einen Index mit durchgehender Nummerierung seiner eigenen Fotografien anzulegen. Ein widerstreitender Geist.
Wer das Hobby Fotografie in den 1850er Jahren aufnahm, demonstrierte einerseits sein naturwissenschaftliches Können mittels dem Umgang mit den Apparaten, Linsen und Chemikalien und gab andererseits seinen künstlerischen Tendenzen Ausdruck – auch die Mischung, die Lewis Carroll ausmachte.
Dazu das Spielerische und Verdrehte: Beim Blick durch den Sucher steht das Bild auf dem Kopf und ist spiegelverkehrt. Beim Abziehen der Negative wird aus Schwarz Weiß und aus Weiß Schwarz. Auf scheinbar leerem Papier erscheint wie durch Zauberhand ein Bild. Nicht ist so, wie es scheint.
Als Lewis Carroll 1856 begann, sich der Fotografie zu verschreiben, entschied er sich für das damals neue Kollodium-Nassplatten-Verfahren, das just die Vorzüge der – damals in Konkurrenz zueinander stehenden Verfahren – Daguerrotypie und Kalotypie miteinander verbunden hatte.
Er suchte höchstmögliche Präzision und Qualität und fand sie auch, nach einiger Zeit der Übung, um die schwierigen und genau einzuhaltenden Abläufe zu verinnerlichen. Da er ein Mann der Ordnung und Selbstdisziplin war, spornten ihn die anfänglichen Fehler an, im Gegensatz zu vielen anderen jungen Männern, die die Fotografie – damals schwer en vogue – schnell wieder aufgaben.
Nachdem er die ersten sieben Jahre lang unter freiem Himmel (zum Teil mit Laken als Hintergründen) und bei Freunden oder Auftraggebern zuhause fotografiert hatte, stand ihm ab 1863 ein kleines Studio zur Verfügung. Aber anstatt dass dieser Raum ihn beflügelte, schränkte ihn die neu gewonnene Freiheit wohl kreativ ein. Die meisten dort entstandenen Aufnahmen sind nicht erwähnenswert.
Aus diesen sonst glanzlosen Ergebnissen sticht aber eines der Portraits von Rev. Thomas Barker und seiner Tochter May hervor. Anstatt sie steif aufgesetzt vor einer eintönig weißen Wand zu präsentieren, sitzt der Vater an die Wand unter einem Fenster gelehnt auf einem Stuhl, während seine Tochter hinter ihm auf dem Polster steht, eine Hand an der Wand und die andere auf der Schulter des Vaters abgelegt.
Roger Taylor führt die Spannung und den gegenseitigen Bezug der beiden Protagonisten auf das Vater-Tochter-Verhältnis zurück. Der Vater trage das Gewicht der Tochter wörtlich und metaphorisch auf dem Rücken, sie steht schützend hinter ihm, um die von ihm zu tragende Verantwortung wissend.
Ich muss gestehen, dass mir ganz andere Gedanken beim Anblick der blicklosen Interaktion der beiden durch den Kopf gehen. Mir scheint eher etwas Teuflisches aus ihrem Blick zu sprechen und wie sie stark hinter ihm steht, während er an der Wand zusammensackt – entzieht sie ihm seine Lebenskraft?
Auch diese – zugegeben von modernen B-Movies inspirierte – Interpretation kann man auf ein Vater-Tochter-Verhältnis übertragen, denn Erziehen kostet Kraft. Natürlich stand dieser Aspekt bei der Entstehung der Aufnahme nicht im Vordergrund.
Viel mehr war jeder Tag im Leben eines Kindes tatsächlich ein Geschenk Gottes, in einer Zeit, in der ständig Kinder vorzeitig an verschiedenen Krankheiten starben.
Informationen zum Buch
„Lewis Carroll, Photographer“* The Princeton University Library Albums
Autoren: Roger Taylor, Edward Wakeling
Verlag: Princeton University Press, 2002
Einband: Hardcover, gebunden
Seiten: 304
Größe: 28,1 x 25,9 x 3,4 cm
Sprache: Englisch
Preis: neu ca. 44 €, gebraucht ab z. Zt. 12 €
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