Heute mache ich alles anders. Dieser Blickfang soll nicht den Fotografen und dessen Werdegang beleuchten und dann erst auf das Bild eingehen. Ganz im Gegenteil. Ich werde den Ersteller der Aufnahme außen vor lassen. Und mich nicht von technischen Details aufhalten lassen.
Ich werde das Bild dekonstruieren und ganz genau betrachten, was ich sehe: Eine Person. Beim Blättern durch den Band fallen mir zwei Portraits auf. Eines zeigt einen in sich hinein lächelnden Mann mit gegeltem Haar. Das andere Bild präsentiert einen Herrn mit Hut, der direkt in die Kamera sieht.
Ich wähle das zweite von beiden aus und stelle fest, wie wichtig der Blick in die Kamera bei einem Portrait doch sein kann.
Nun beuge ich mich über den Fotoband, betrachte in aller Ruhe das Foto. Sekunden vergehen, ohne dass ich es merke. Doch eines merke ich sofort: Ich kann mich nur schwer vom festen Blick des Mannes lösen. Immer wieder kehre ich zu seinen Augen zurück und überlege.
Wer bist Du? ??Ich suche Details. Finde Behaarung auf seiner Hand, eine silberne Armbanduhr und das Glas, gefüllt mit Bier, im Vordergrund. Dann fällt mir der Ring auf. Ich überlege, ob er verheiratet ist und schweife ab.
Wohin? In die Ungewissheit, keinen Anhaltspunkt zum Aufnahmedatum zu haben. ??Das Bild ist scheinbar zeitlos. Und das ist wiederum komisch. Faszinierend. Merk-würdig. Doch im Augenwinkel des Buches erahne ich Buchstaben auf der gegenüber liegenden Seite:
David Scott Smith, 2005.
Alles ist verraten.
Wirklich? Alles?
Das Geheimnis bleibt. Die Information ist für mich nur eine Aneinanderreihung von Buchstaben. David könnte auch Michael heißen und statt 2005 könnte 2000, 1990 oder 1980 an dieser Stelle stehen.
Ich beginne, den Mann genauer zu analysieren. Wer bist Du? Du bist kein armer Mensch. Du leistest Dir Zigaretten und das belanglose Herumliegen der Geldscheine verrät, dass Dein Umgang mit ihnen weder zögerlich noch sparsam ist.
Deine silberne Uhr lässt etwas Prestige durchblitzen, der Ring an der linken Hand verrät eine Frau oder einen Mann an Deiner Seite. Sitzt sie oder er etwa direkt neben Dir?
Dein Hut sitzt stilvoll, ist das i-Tüpfelchen Deiner Bekleidung und reiht sich wunderbar in das schwarze Hemd und die ebenso schwarze Jacke ein. Deine Kleidung sieht nicht zufällig oder planlos ausgewählt aus. Die Brille sitzt perfekt und die Brillengläser glänzen.
Ordnung scheint Dir wichtig zu sein. Denn Dein Bart ist fein säuberlich ausrasiert und kein einziges Härchen hast Du übersehen. Du stützt Dein Kinn seitlich ab. Doch es ist kein gelangweiltes Abstützen, Deine Haltung ist direkt, interessiert, aufmerksam.
Nun weiß ich eine Menge über Dich, aber ich kann in vielen Annahmen falsch liegen. Die Frage, wer Du bist, wird mir nur teilweise beantwortet. Doch das ist genug für den Moment. Das Foto stellt Dich vor, ohne dass ich irgendwas sagen muss. Nicht irgendwelche Floskeln dahinsagen, lächeln und mich auf ein Gespräch einstellen muss.
Es ist gut so, wie es ist.
David Scott Smith wurde 2005 im Rahmen des Buches „The Regulars“* von Sarah Stolfa fotografiert.
Informationen zum Buch
„The Regulars“
Taschenbuch: 96 Seiten
Preis: 12,33 €
Verlag: Artisan
Sprache: Englisch
?Größe: 22,9 x 18,5 x 1 cm
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