In meinem Bücherschrank bin ich vor Kurzem mal wieder über einen echten Klassiker gestolpert: „The Polaroid Book“* von TASCHEN. Wann immer ich einfach mal in der unendlich vielfältigen Bandbreite kreativer Polaroids schmökern möchte, nimmt mich diese Auswahl der Bilder aus der Polaroid-Sammlung gern für ein paar Stunden gefangen.
Barbara Hitchcock beschreibt in dem im Buch enthaltenen Essay „Als Land auf Adams traf“, wie der Erfinder der Polaroid-Technologie, Edwin Land, den als herausragendster Landschaftsfotograf unserer Zeit geltenden Ansel Adams kennenlernt. Aus dieser Freundschaft entstand die Idee und Umsetzung der Polaroid Collections of Photography.
Dabei kaufte Polaroid selbst Werke von Fotografen an oder stattete auch bis dato unbekannte Künstler mit Kameras und Filmmaterial aus. Damit konnten sie nach Herzenslust experimentieren, wenn sie dafür im Gegenzug einige ihrer besten Bilder für die Polaroid Collection zur Verfügung stellten.
Beim letzten Streifzug durch diesen Ziegelstein an Buch, das mehr als ein Kilogramm auf die Waage bringt, war ich auf der Suche nach dem Bild, das mich am meisten gefangen nimmt. Hängen geblieben bin ich dann bei dieser Arbeit ohne Titel der amerikanischen Fotografin Joyce Tenneson. Vom Stil her passt es zu ihren anderen Arbeiten im Portfolio Transformations, auch wenn ich das gleichnamige Buch leider nicht besitze.
Zu sehen ist ein Kind mit freiem Oberkörper, einem Tuch um die Hüften, einer großen weißen Mitra auf dem Kopf sowie halbtransparentem Schleier und Umhang. Den Hintergrund bildet eine gemalte Säule, wahrscheinlich handelt es sich um eine Motiv(lein)wand im Studio, die auch in weiteren Arbeiten von Tenneson zu finden ist.
Gefangen nimmt hier mich der undefinierbare Blick des Kindes, der durch eine Art Doppelbelichtung besonders entrückt wirkt. Diese Überlagerung ist vor allem am Kopf deutlich zu sehen, auch wenn man sie ebenfalls links am Umhang und unten am Tuch ausmachen kann. Wenn man genau hinsieht, lassen sich die zwei Aufnahmen aber zumindest so gut unterscheiden, dass klar wird, dass der gesamte Gesichtsausdruck bei beiden Belichtungen sehr leer war.
Mich fasziniert, wie Tenneson hier mit dem sehr einfachen Mittel der Doppelbelichtung und einem minimalistischen Bildaufbau ein ganz surreales Werk geschaffen hat. Der Hintergrund mit seinen weichen Linien, etwas Struktur und den unterschiedlichen Durchsichtigkeiten des Umhangs tragen dazu bei. Gleichzeitig herrscht eine bestechende Klarheit: Man sieht genau, was abgebildet wurde, es herrscht kein Wischiwaschi.
Bis hierhin bin ich schon vollkommen vom Bild eingenommen und habe noch gar nicht von den sanften Farben geschwärmt oder mich mit der Frage beschäftigt, warum hier überhaupt ein halbnacktes Kind mit seltsamem Blick abgebildet ist, das dank Mitra sofort an einen christlichen Würdenträger denken lässt.
Joyce Tenneson wurde 1945 in Massachusetts geboren und ist heute für ihre Fine-Art-Fotografien bekannt. Ihre Arbeiten wurden in mehr als 100 Ausstellungen überall auf der Welt gezeigt und sie hat für einige bekannte Magazine das Titelbild beigesteuert. Ihre bevorzugte Kamera ist eine Großformat-Polaroid – womit sich der Kreis zum Buch schließt.
Enden möchte ich diesen Blickfang mit einem Zitat von Joyce Tenneson, das mich ebenso wie das titellose Bild dazu anspornt, endlich eine eigene, surreale Bildsprache zu entwickeln:
Ich glaube sehr stark daran, dass, wenn Du zurück zu Deinen Wurzeln gehst, wenn Du in diesem inneren Land gräbst, Du etwas zutage fördern kannst, das dauerhaft Du selbst und authentisch ist – wie Dein Fingerabdruck. Es wird Deinen Stil haben, weil es niemanden gibt, der genauso ist wie Du.
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kwerfeldein – Fotografie Magazin
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