Noch ist es keine Tradition, aber wir sind auf dem besten Weg dahin, eine daraus zu machen: Inspiriert von den großartigen und vielfältigen Geschichten zu den wichtigsten Fotos unserer Leser haben auch die Redakteure von kwerfeldein in ihre Archive des letzten Jahres geschaut und stellen hier ihre wichtigsten Bilder vor.
Martin Gommel
Mitte Dezember 2014 war ich unzufrieden. Ich hatte genug von den Schlagzeilen über Flüchtlinge in Deutschland gehört, von den politischen Debatten und den Demonstrationen. Ich wollte aber keine Zahlen mehr. Ich wollte Menschen zu den Zahlen.
So schnappte ich mir meine Kamera und lief zur Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge (LEA) hier in Karlsruhe. Vor dem Gebäude habe ich in den letzten Wochen viele Menschen kennengelernt, die aus Verzweiflung, Hungersnot, Krieg und vielen anderen Gründen zu uns nach Deutschland geflohen sind.
So traf ich auch das kleine Mädchen Nadia. Sie kam mit ihrer Mutter und ihrem Onkel auf mich zu und ich begann, mich ein wenig mit ihnen zu unterhalten. Ich hieß sie willkommen in Deutschland, stellte mich und mein Vorhaben vor.
Mit ein paar Gesten, ein wenig Englisch und der Hilfe des Onkels konnten wir gut kommunizieren. Nadias Mutter erzählte mir, dass ihr Heimatland Togo in Westafrika ist und sie war sofort damit einverstanden, als ich fragte, ob ich paar Aufnahmen von Nadia machen dürfe.
Nadia hatte mich seit des Beginns meiner Unterhaltung mit ihrer Mutter und ihrem Onkel nicht aus den Augen gelassen und die ganze Zeit über fixiert. So tat sie es auch, während ich in die Knie ging und durch den Sucher blickte. Dieses Verhalten überraschte mich, weil ich das von keinem anderen Kind ihres Alters kannte.
Wie ich von Nadias Mutter erfuhr, ist sie zwei Jahre alt. Sie hat in ihrem kurzen Leben sicherlich schon einiges erfahren, was nicht zu den schönsten Momenten eines Kinderlebens zu zählen ist.
Ich werde Nadia nie wieder sehen, da Flüchtlinge in der LEA nur für sehr kurze Zeit sind. Ich wünsche ihr das Beste und hoffe, dass sie in Deutschland ein neues Zuhause findet, das ihr Sicherheit gibt und sie wohlbehütet aufwachsen kann.
Katja Kemnitz
Ich fand es unglaublich schwer, dieses Jahr das für mich wichtigste Foto zu wählen, denn ich mag viele meiner Bilder ganz gern, aber wirklich wichtig ist mir kaum eines. Warum kann ich nicht so genau sagen. Es war einfach ein schweres Jahr mit Monaten, in denen ich mich schon fast in die Fotografie flüchtete und Monaten, in denen ich die Kamera nicht berührte.
Ich habe mich am Ende für das Portrait von Paula entschieden, denn es entstand in einer Zeit, die schön und wichtig für mich war. Ein Meet-up mit vielen Fotografen aus ganz Deutschland, Österreich und Luxemburg. Paula ist eine dieser Fotografen. Ich kannte sie vorher nicht und auch jetzt weiß ich noch viel zu wenig über sie, habe viel zu wenig mit ihr gesprochen. Aber das Bild verspricht mir, dass ich noch viele tolle Menschen kennenlernen werde, wenn ich möchte und dass es sich lohnt, auf andere zuzugehen.
Aileen Wessely
Gefühlt habe ich noch nie so viel gearbeitet wie im letzten Jahr. Entsprechend wenig habe ich fotografiert und wenn, dann waren es meistens Polaroids. Gedanken dazu möchte ich seit Längerem schon aufschreiben und schaffe es hoffentlich auch noch, sie in eine sinnvolle Form zu bringen.
Bei einem Job im April war ich überfordert und unzufrieden mit der Vorbereitung und Kommunikation mit meinem Kollegen. An einem Tag hat er meine geballte Wut abbekommen; wobei ich so zorngeladen auch entsprechend schlecht darin bin, sinnvoll zu kommunizieren. Nach einer Aussprache haben wir uns aber doch wieder vertragen.
Mit der Orchidee, die zu der Zeit zuhause bei mir geblüht hat, hat das inhaltlich wenig zu tun, doch hat meine Stimmung zwischen aufgestauter Wut und freudiger Entspannung nach der Versöhnung dazu geführt, dass ich den Wunsch hatte, sie assoziativ in ein Bild zu bannen. So entstand ohne rationalen Zusammenhang, sondern geleitet vom Bauchgefühl eine vierteilige Serie von Doppelbelichtungen der Pflanze.
Ich möchte nicht sagen, dass das zweite Bild mir am besten gefallen würde, aber ich betrachte es seit der Entstehung der Bildreihe als den Höhepunkt: Während das erste Bild noch den chaotischen Zustand des Konflikts zeigt, bebildern die beiden letzten Bilder schon das Sich-Ausbreiten und langsame Abklingen nach der Auflösung. Dazwischen der Moment – geradezu Augenblick, Sekundenbruchteil – der Versöhnung, Synchronisation.
Robert Herrmann
Im Frühling 2014 verbrachte ich einen Monat in Istanbul. Es war mein erster Besuch in der türkischen Metropole und sehr schnell begann sie, mich zu faszinieren.
Große, laute, volle Städte üben eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Es steckt so viel Anmut in ihrem komplexen Durcheinander. Immer wenn ich eine Stadt besuche, die ich noch nicht kenne, versuche ich, die ihr zugrunde liegenden Muster zu entschlüsseln und zu verstehen.
Ich nutzte jeden Tag, um so viele Ecken Istanbuls wie möglich kennenzulernen und besuchte neben den touristischen Hotspots auch weniger attraktive Gegenden. Ziemlich schnell stellte ich fest, dass Istanbul in jeder Hinsicht unglaublich vielschichtig ist: strukturell, historisch, geografisch, kulturell, ethnisch, sozial.
Die Stadt scheint aus allen Nähten zu platzen. Überall wird hastig gebaut, immense Infrastrukturprojekte greifen tief in die Topografie und in die gewachsene Bau- und Gesellschaftsstruktur ein.
Byzantinisches Erbe und informelle Bauten teilen sich das Stadtbild mit neuen Wolkenkratzern, Symbolen für die Macht des Kapitals. Dass es in diesem wachsenden Konglomerat von inzwischen 14 Millionen Menschen zu Spannungen kommt, liegt da nicht fern.
Schnell entdeckte ich die Möglichkeit, vom höchsten Gebäude der Stadt, dem Istanbul Sapphire, einen Blick von oben auf den brodelnden Kessel zu bekommen.
Wie sich dieser gigantische Teppich dicht aneinander stehender Gebäude über die Topografie legte! Nirgends zuvor habe ich solch eine Stadtstuktur gesehen, die so organisch gewachsen und landschaftlich wirkte, obwohl doch allein von Menschenhand erschaffen.
Marit Beer
Wenn ein Foto das wichtigstes des Jahres sein soll, dann kann es nur ein emotional gefärbtes Bild sein. In meinem Fall war die Wahl nach zwei Sekunden schon getroffen. „Fathers Hands“ ist natürlich das wichtigste Bild für mich.
Diese Hände brachten mir das Laufen bei, hielten mich, wenn ich taumelte, zogen mich aus allerlei Unsinn wieder heraus und gaben mir das Schönste, was ich heute besitze: die Fotografie.
Als letztes Jahr meine Mutter starb, da hatte ich große Angst um meinen Vater. Ich realisierte plötzlich, wie alt er geworden ist und wie nah wir alle dort am Abgrund stehen, wo wir all unsere Lieben niemals stehen haben wollen.
Das eindrucksvollste Bild, das ich bis heute im Kopf habe, ist, als er die Urne in den Händen hielt und als gebeugter Mann die Asche seiner Frau zu Grabe trug, während sich hinter ihm der Trauermarsch wie eine schwarze Blüte auffächerte. Und jetzt fangt bitte nicht alle an zu heulen!
Aber diese Hände, schaut sie Euch genau an. Vielleicht werden Eure Hände eines Tages auch so zerfurcht sein, alt und zerissen von Erinnerungen. Ich wünsche es Euch.
Sebastian Baumer
Das Dyptichon mit den beiden toten Bäumen ist mein wichtigstes Foto des letzten Jahres. Es trägt keinen Titel im eigentlichen Sinne, hat aber einen kurzen Dialog, vielleicht einen Untertitel, der dazugehört, der lautet: „Vater, wo gehen all die toten Bäume hin?“ – „Ich weiß es nicht, mein Sohn.“
Die beiden Aufnahmen aus den Wäldern von Schweden sind nicht die besten Bilder im technischen Sinne, die ich letztes Jahr gemacht habe. Auch nicht im atmosphärischen, inhaltlichen oder sonstigen Sinne. Aber ich verbinde mit ihnen eine Richtung, in die meine eigene Fotografie im letzten Jahr gewandert ist: Eine Art konzeptuelle Naturfotografie. Ich mache derzeit Serien, die die Natur nicht einfach nur im Sinne einer Beobachtung dokumentieren, sondern eine Geschichte hineinlegen und/oder herauslesen wollen.
Die Intention dieser Art von Fotografie ist es, näher an die Natur heranzurücken und sie gleichzeitig mehr aus der Perspektive eines Geschichtenerzählers als eines Dokumentars zu betrachten. Und die zwei toten Bäume, von denen wir nicht wissen, wo sie hingehen, sind ein gutes Beispiel dafür.
Kat Kapo
Im Sommer 1987 saß ich mit meiner Großmutter im Garten. Vor uns aufgereiht war eine Artillerie an Schneckenhäusern. Nach einer Weile krochen die von der Sonne Gepeinigten aus ihren bunt gefärbten Häusern. So und mit anderen kleinen Zaubermitteln hat mir meine Großmutter die Natur näher gebracht. In Erinnerung bleiben mir diese gemeinsamen Erkundungen, Geheimnisse und Scherze.
Ich kannte meine Großmutter in gewisser Hinsicht halb und ganz. Einiges von ihr kenne ich nur aus Erzählungen. So auch die Zeit in ihrer Heimat Ostpreußen und die Flucht nach Deutschland nach dem Krieg; sie verbleibt viel mehr als trübe Erinnerung im Fotoalbum meiner Großmutter. Ich habe dieses Familienfotoalbum nach ihrem Tod erhalten, das Erlebnisse ab 1900 bis circa 1970 umfasst und das, wie ich finde, ein wahrer Schatz ist.
Letztes Jahr habe ich begonnen, zu einigen Bildern Geschichten zu schreiben und in einem Buch zu sammeln. Bei der Niederschrift lieh ich mir die Stimme meiner Großmutter. Alles in diesem Buch ist so wahr wie es wahr sein soll, doch vor allem sind Humor und Ernsthaftigkeit wichtige tragende Elemente.
Eine dieser Fotografien ist das Bild von Albert, dem älteren Bruder meiner Großmutter, auf einer Reise in Südamerika und im süffisanten Gespräch mit einem dort einheimischen Kaktus. Albert war ein Weltenbummler und schickte ihr Fotografien und Briefe von fremden Orten in die DDR. Meine Großmutter war dafür bekannt, dass sie diese und andere Geschichten regenbogenfarben und theatralisch nacherzählte.
Dieses Foto ist das erste gewesen, zu dem ich einen Text („Post von Albert“) schrieb. Es bildet somit auch den Auftakt zu einer Erzählreihe, die mich angeregt hat, über die Bedeutung kollektiver Erinnerungen und über Fotografie als Mittel zu deren Zementierung zu forschen. Die Bilder meiner Großmutter und Texte sind bis zum 7. Februar in einer Gruppenausstellung über das Zusammenspiel von Bildern und Worten in der Galerie imago fotokunst in Berlin zu besichtigen.
Chris Hieronimus
„Guilt“ ist für mich das wichtigste Foto des letzten Jahres, weil es ein sehr persönliches ist. Es ist ein Teilaspekt meiner Sicht auf die Welt. Der Begriff der Schuld steht stellvertretend für die Unfähigkeit der Menschen, mich eingeschlossen, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Im Blick auf Umwelt und Mitmenschen führen uns unsere Gedanken nur zu uns selbst zurück.
Oft nicht in der positiven Art und Weise, in unserem Gegenüber uns selbst zu erkennen, sondern letztlich in der Entscheidung, unser Selbstverständnis auf andere zu übertragen. Es fällt mir oft schwer, in der Menschheit mehr als nur den Kreislauf von Gewalt und Diskriminierung zu sehen.
Das Foto ist somit ein Appell an mich selbst, die guten Seiten menschlicher Gemeinschaft nicht aus den Augen zu verlieren. Als Selbstportrait nimmt das Bild mich selbst in die Verantwortung.
Anne Henning
Letzen Sommer hatte ich endlich genug Zeit und Mittel, um zu reisen. Dieses Foto ist in Siglufjörður, einem kleinen Fischerdorf in Island entstanden.
Wir standen vor dieser gewaltigen und unwirklichen Bergkette, um uns herum nur Wind, Nebel, Eis, krächzende Möwen und die totale Freiheit. Es war kalt und diesig, die Wolken standen dicht und der Regen nieselte auf uns herab. Ich hatte keine Idee, wie ich mit dieser Lichtsituation umgehen sollte und habe einfach zweimal die Kiev mit offener Blende in diesen wahnsinnigen Himmel gerichtet.
Wochen später zuhause dann dieses Foto in den Händen zu halten, war ein wunderschönes Gefühl. Auch wenn es ganz anders aussieht, als der Himmel in diesem Moment eigentlich war, hat es dennoch diese kalte Stimmung und die unwirkliche Weite, die ich in dem Moment der Aufnahme gespürt habe.
Við bedeutet „wir“. Wir beide, zwei kleine Menschen, warmer Atem in kalter Luft, vor diesem rauhen Gebirge.
kwerfeldein – Fotografie Magazin | Fotocommunity
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