Ein Beitrag von: Rafael Wild
Meine Serie, die ich euch heute vorstellen möchte, entstand in einem Blockseminar an der Freien Fotoschule Stuttgart. An dieser Schule belegen wir in einem Semester drei solcher Seminare. In einem dieser Seminare müssen wir innerhalb von vier Tagen eine Serie von fünf bis sieben Fotos vorlegen.
Das Thema wird von unseren Dozenten gestellt und wir erarbeiten dann innerhalb einer Stunde ein Konzept unserer ersten Ideen. Danach heißt es, an Abgabe und Präsentation fleißig zu arbeiten. Dabei sollen wir auch lernen, die Fotografien richtig zu präsentieren. An der Wand, im Rahmen, im Buch und so weiter. Wir sollen auch lernen, über diese Fotos zu sprechen, Kritik zu üben, Kritik anzunehmen und das Kritisierte beim nächsten Mal erneut anzuwenden und zu verbessern.
In dieser dargestellten Aufgabe sollten wir sieben Bilder mit dem Thema „Erzählungen über mich“ fotografieren, darin etwas über uns erzählen. Innerhalb einer Stunde hatte ich mein Konzept geschrieben, es meiner Dozentin vorgelegt und 1000 Ideen im Kopf entwickelt.
Da ich jeden Tag eine Stunde von Ulm nach Stuttgart im Zug sitze, habe ich dort genügend Zeit, mir Gedanken über mich und meine Fotos zu machen. Meine eigentliche Idee war, die Lieblingsorte meiner Kindheit zu fotografieren.
Aber wie? Wie fotografiere ich so etwas, ohne dass es nach langweiligen Landschaftsfotos aussieht? Wie bringe ich einen Eyecatcher hinein? Wie kann ich die anderen davon überzeugen, meine Fotos anzusehen? Und wie schaffe ich es überhaupt, die Lieblingsorte meiner Kindheit erkennbar rüberzubringen? Viele Fragen, keine Antworten.
In meinem Konzept stand zwar, dass ich die Orte meiner Kindheit fotografieren wollte, aber noch nicht genau wie. Meine erste entscheidende Idee war es, nachts zu fotografieren – damit ich Verwischungen ins Foto bekomme und durch die künstliche Beleuchtung andere Schatten und sowas erhalte.
Mir fehlte also noch das gewisse Etwas. Die nächste Idee war, mich selbst in die Fotos mit einzubauen. Aber wie baue ich mich in ein Foto ein, das durch eine Langzeitbelichtung entstehen soll, ohne zu verwackeln? Wenn ich mich bewege, verwische ich und werde eventuell sogar durchsichtig. Verwischt, durchsichtig – das erinnerte mich an einen Geist.
Wie kann ich mich aber als Geist in ein Foto einbauen – ohne Photoshop? Das Foto belichten, ganz schnell hineinspringen, umher hüpfen und wieder rausspringen? Dazu müsste ich mich hell kleiden, damit etwas im Foto zu erkennen ist. Soll ich dazu eine Taschenlampe benutzen, um eine helle, ausbegrannte Stelle zu erzeugen? Wieder Fragen über Fragen.
In einem Artikel auf kwerfeldein habe ich einmal bei einer Serie gesehen, was bei einer längeren Belichtungszeit von 1/8 oder 1/6 Sekunde und mit einem Vorhang entstehen kann. Das Modell darin hatte sich einen weißen Vorhang übergeworfen und bewegte sich. Durch diese Bewegungen bei einer langen Belichtungszeit kamen Verwischungen zustande.
Es waren nur noch Umrisse, Schatten und dunkle Teile des Gesichtes zu erkennen. ?Genau das, was ich wollte! Ich startete mit meiner Kamera, einem Stativ und einem alten, stinkenden Vorhang an meinen ersten Lieblingsort.
Dworzak wurde einmal gefragt, wie man Fotograf wird.
Seine Antwort fiel knapp aus: Man nimmt einen Fotoapparat und fährt irgendwohin.
Das erste Foto entstand auf dem Spielplatz hinter unserem Haus. Ich richtete meine Kamera – ein 50mm f/1.4 an einer Canon EOS 5D Mark II – aus und schoss erste Testfotos zur Kontrolle der Belichtungszeit, des Ausschnitts und der Schärfe. Und nun – Vorhang schnappen, Selbstauslöser an und sprinten!
Zur Info: Es ist wirklich nicht einfach, während des kurzen Sprints vor die Kamera den Vorhang umzuwerfen und nicht hinzufallen, so mitten in der Nacht…
An der richtigen Stelle angekommen, mit dem Vorhang über mir, beobachte ich die Kamera – in der Hoffnung, dass ich selbst nicht beobachtet wurde. Das blinkende Licht bleibt stehen, das heißt in drei Sekunden belichtet die Kamera, das Licht geht aus – klick. In einer gebückten Stellung bewegte ich mich langsam hin und her. Klick – nach 20 bis 30 Sekunden ist die Kamera fertig.
Also schnell wieder zurück, um mir das Ergebnis anzuschauen. Ich war begeistert! Ich hatte einen Geist in ein Foto gezaubert!
Einige Versuche, Änderungen an den Kameraeinstellungen und meiner Position später, ging es weiter zur nächsten Location. 20 Meter nach rechts, zur Schaukel. Dort und auch bei den anderen Locations: Jedes Mal das gleiche Spiel.
Bei meiner Ausführung habe ich auf den gleichen Bildausschnitt, die Größe des Geistes, die Höhe des Horizontes und ähnliche Dinge geachtet. Die letzten beiden Fotos, in der Badewanne und bei meinen Eltern im Bett, musste ich leider eine Ausnahme machen. Für mich persönlich gehören sie dennoch zur Serie, sie erzählen so viel über mich und meine Kindheit. Und das ist für mich in meiner Serie essenziell.
Für die Bearbeitung habe ich in Lightroom nur die Sättigung etwas rausgenommen, das Schwarz und Weiß leicht angehoben und einen dezenten Grünstich mit eingebaut. Diese Färbungen sind mir sehr wichtig.
Vor zwei Jahren bin ich in der Türkei während der Fahrt von meinem Roller gefallen, und soweit ich mich erinnern kann, habe ich in diesem „Moment des Sturzes“ alles mit einem Mix aus Grün und Sepia gesehen.
Bei der Präsentation meiner Serie in der Schule wussten alle Dozenten und Kommilitonen sofort, dass es sich um Erzählungen aus meiner Kindheit handelt. Ziel erreicht, oder? Ein paar wenige meinten, ich solle alle Fotos noch einmal neu fotografieren, allerdings ohne diesen Geist. Sind es dann nicht nur langweilige Landschaftsfotos?
Die Serie ist für mich noch nicht vollständig. Es fehlen vor allem noch einige Fotos von meinem allerliebsten Lieblingsort auf der Welt – der Türkei – meiner zweiten Heimat. Außerdem werde ich noch Fotos meiner Jugend, dem Erwachsenwerden und so weiter fotografieren. So wird das dann hoffentlich auch bis zum Schluss weitergehen.
Für mich persönlich ist diese Serie eine wundervolle Bereicherung. Alte, fast vergessene Erinnerungen kommen wieder hoch. Hoffentlich gefällt Euch meine Serie, vielleicht konnte ich den einen oder anderen inspirieren, auch so etwas oder Ähnliches zu fotografieren.
Auf Kritik und Anregungen in den Kommentaren freue ich mich schon sehr!
kwerfeldein – Fotografie Magazin
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