Ein Beitrag von: David Jazay
Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; sie machen dort alles anders. – L. P. Hartley
In dieser Vergangheit, nämlich 1982, lebte ich für drei Monate als Austauschschüler in Dublin. Die verarmte und baufällige Innenstadt faszinierte mich an jenem Sonntagmorgen, an dem ich allein die Liffey Quays vom Zentrum stadtauswärts entlangwanderte, eine Strecke von etwa drei Kilometern. Trödler, Möbelgeschäfte, ein paar Pubs, viele der georgianischen Fassaden in leuchtenden Farben gestrichen.
Es war eine Welt, die mich an amerikanische Krimiserien erinnerte, an Pop, an Freiheit. Kinder hielten mich (mit der Rolleiflex meines Vaters) an, um fotografiert zu werden; ich kam ins Gespräch mit Ladenbesitzern und Obdachlosen.
Halbverfallene Ruinen luden zum Entdecken ein, lange bevor „Urbexing“ als Begriff existierte und der Herbsthimmel strahlte in einem stählernen Tiefdunkelblau, das selten in Dublin zu sehen ist.
Fast forward. 1988, ich studiere an der Filmhochschule in München und drehe meinen ersten langen Dokumentarfilm: „Bargaintown – Dublin, Liffey Quays“. Ich will dieses Licht wiederhaben, den strahlend-dunklen Himmel, vor dem die immer verfalleneren Gebäude einen übernatürlichen Glamour erhalten.
Aber das Wetter will nicht, es ist bedeckt. Unser kleines Team aus zwei Mitstudenten wartet – gegen jede Vernunft – auf die letzte Woche, in der wir es tatsächlich schaffen, den Schwarzweißfilm mit den erwünschten grafischen Kontrasten zu drehen.
Wie schon die Jahre davor fotografiere ich auch wieder. Oft die gleichen Orte, wie sie sich verändern. Ein alter Laden macht zu, ein anderer zieht um oder hängt neue Werbeschilder an die marode Fassade.
Ich besuche Handwerker und Märkte, nehme neben Veduten, angelehnt an die klassischen Stiche des 18. Jahrhunderts und weitläufigen Panoramen auch Portraits der Bewohner auf: Händler, wie sie hinter ihren Ladentheken posieren und die Fassaden ihrer Läden.
Beides „Schauseiten“, öffentliche Inszenierungen von Handwerkerstolz und Tradition. Es sind harte Zeiten in Dublin, über die Innenstadt liest man fast nur noch, wenn es um eine neue Heroinwelle geht. Mein Respekt für diese Menschen wächst, die sich nicht verdrängen lassen, auch nicht durch die häufigen Brände, mit denen gern mal „heiß entmietet“ wird.
Meine anfängliche Begeisterung hat sich zu einer Obsession gesteigert, ich will eine umfassende Dokumentation dieses Viertels erstellen – den Plan zu einem Fotobuch hatte ich schon mit 16 Jahren in meinem Tagebuch skizziert.
Ich will alles festhalten, was ich an Dublin liebe. Immer wieder fahre ich hin, erlebe den Wandel in den Jahren unmittelbar vor dem Celtic Tiger. 1992, ich lebe mittlerweile in Leeds, fotografiere ich die Stadt vorerst zum letzten Mal.
Die Boomjahre zwischen 1995 und 2000 verändern das Stadtbild Dublins radikal. Ich werde erst 2013 nach Dublin zurückkehren.
Mein Langzeitprojekt „Dublin Before the Tiger“, das ich in diesem Jahr fertigstelle, soll eine neuartige Perspektive auf die Vergangenheit bieten, die wir allzu oft nur aus atmosphärischen Schwarzweißaufnahmen kennen, aus zufällig aufgefundenen Amateuraufnahmen oder aus Postkartenansichten bekannter Gebäude.
Dafür habe ich systematisch ganze Gebäudeensembles in Einzelaufnahmen erfasst, die sich erst jetzt am Computer zu höchauflösenden Großbildern zusammensetzen lassen. Meine Arbeit handelt von Menschen und ihrer Umgebung, den Spuren, die vergangene Generationen hinterließen, der wechselnden Nutzung urbaner Räume.
Aus hochauflösenden Scans von bis zu zwölf perspektivisch korrigierten Mittelformat-Negativen entstanden Tableaus, die diese unbeachteten und wenig dokumentierten Alltagsorte in großem Detailreichtum zeigen und die selbst mit Großbildtechnik so nicht zu fotografieren gewesen wären.
Ein Schwarzweißpanorama einer Größe von 2 x 70 Metern zeigt die Liffey Quays in ihrer ganzen innerstädischen Länge. Es soll 2015 in Dublin im öffentlichen Raum installiert werden, nur wenige Meter von den ursprünglichen Aufnahmeorten entfernt.
Da gerade eine junge Generation viele der vor zehn Jahren noch spärlich bewirtschafteten und verfallenden innerstädtischen Viertel für sich entdeckt, ist das öffentliche Interesse für diesen Blick auf die Stadt groß.
Im Frühjahr 2014 veröffentliche ich das erste Mal eine Auswahl von Fotos, bewerbe das Projekt im Internet und besuche Dublin seit 18 Jahren wieder. Mit einem Dubliner Museum planen wir eine Ausstellung für 2015, bei der auch der Dokumentarfilm „Bargaintown“ wieder aufgeführt werden soll.
Neben dem Einfluss von Bernd und Hilla Bechers großformatiger Dokumentarfotografie war für mich besonders die Arbeit der amerikanischen Fotorealisten prägend: Richard Estes, Ralph Goings, aber vor allem John Baeder (und seine Diner-Serien). So wollte ich immer schon Portraits von Menschen machen und von Häusern.
Denn diese Gebäude sprechen in ihrer naiv gestalteten, liebevollen Buntheit für sich: Shopfronts, Schildermalerei und Werbetafeln, denen man die US-amerikanischen Vorbilder deutlich ansieht. Sie erzählen vom Leben in einem armen Land, einem traditionellen Auswanderungsland, in einem Europa vor der Globalisierung.
kwerfeldein – Fotografie Magazin | Fotocommunity
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