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Posts Tagged ‘Alles’

Ich will alles festhalten

13 Dec

William Gallagher of Martin+Joyce's Butcher shop, the last working premise in this block of Benburb Street, Dublin. Photograph taken in 1992, diptych assembly in 2014

Ein Beitrag von: David Jazay

Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; sie machen dort alles anders. – L. P. Hartley

In dieser Vergangheit, nämlich 1982, lebte ich für drei Monate als Austauschschüler in Dublin. Die verarmte und baufällige Innenstadt faszinierte mich an jenem Sonntagmorgen, an dem ich allein die Liffey Quays vom Zentrum stadtauswärts entlangwanderte, eine Strecke von etwa drei Kilometern. Trödler, Möbelgeschäfte, ein paar Pubs, viele der georgianischen Fassaden in leuchtenden Farben gestrichen.

Es war eine Welt, die mich an amerikanische Krimiserien erinnerte, an Pop, an Freiheit. Kinder hielten mich (mit der Rolleiflex meines Vaters) an, um fotografiert zu werden; ich kam ins Gespräch mit Ladenbesitzern und Obdachlosen.

Halbverfallene Ruinen luden zum Entdecken ein, lange bevor „Urbexing“ als Begriff existierte und der Herbsthimmel strahlte in einem stählernen Tiefdunkelblau, das selten in Dublin zu sehen ist.

Fast forward. 1988, ich studiere an der Filmhochschule in München und drehe meinen ersten langen Dokumentarfilm: „Bargaintown – Dublin, Liffey Quays“. Ich will dieses Licht wiederhaben, den strahlend-dunklen Himmel, vor dem die immer verfalleneren Gebäude einen übernatürlichen Glamour erhalten.

Eine Frau steht vor einem bunten Gebäude.

Aber das Wetter will nicht, es ist bedeckt. Unser kleines Team aus zwei Mitstudenten wartet – gegen jede Vernunft – auf die letzte Woche, in der wir es tatsächlich schaffen, den Schwarzweißfilm mit den erwünschten grafischen Kontrasten zu drehen.

Wie schon die Jahre davor fotografiere ich auch wieder. Oft die gleichen Orte, wie sie sich verändern. Ein alter Laden macht zu, ein anderer zieht um oder hängt neue Werbeschilder an die marode Fassade.

Ich besuche Handwerker und Märkte, nehme neben Veduten, angelehnt an die klassischen Stiche des 18. Jahrhunderts und weitläufigen Panoramen auch Portraits der Bewohner auf: Händler, wie sie hinter ihren Ladentheken posieren und die Fassaden ihrer Läden.

Ein Junge posiert mit zwei Münzen in North Dublins Linenhall Street, 1988.

Beides „Schauseiten“, öffentliche Inszenierungen von Handwerkerstolz und Tradition. Es sind harte Zeiten in Dublin, über die Innenstadt liest man fast nur noch, wenn es um eine neue Heroinwelle geht. Mein Respekt für diese Menschen wächst, die sich nicht verdrängen lassen, auch nicht durch die häufigen Brände, mit denen gern mal „heiß entmietet“ wird.

Meine anfängliche Begeisterung hat sich zu einer Obsession gesteigert, ich will eine umfassende Dokumentation dieses Viertels erstellen – den Plan zu einem Fotobuch hatte ich schon mit 16 Jahren in meinem Tagebuch skizziert.

Ich will alles festhalten, was ich an Dublin liebe. Immer wieder fahre ich hin, erlebe den Wandel in den Jahren unmittelbar vor dem Celtic Tiger. 1992, ich lebe mittlerweile in Leeds, fotografiere ich die Stadt vorerst zum letzten Mal.

Die Boomjahre zwischen 1995 und 2000 verändern das Stadtbild Dublins radikal. Ich werde erst 2013 nach Dublin zurückkehren.

Straßenszenen in Bellana Heathers, Dublin

Mein Langzeitprojekt „Dublin Before the Tiger“, das ich in diesem Jahr fertigstelle, soll eine neuartige Perspektive auf die Vergangenheit bieten, die wir allzu oft nur aus atmosphärischen Schwarzweißaufnahmen kennen, aus zufällig aufgefundenen Amateuraufnahmen oder aus Postkartenansichten bekannter Gebäude.

Dafür habe ich systematisch ganze Gebäudeensembles in Einzelaufnahmen erfasst, die sich erst jetzt am Computer zu höchauflösenden Großbildern zusammensetzen lassen. Meine Arbeit handelt von Menschen und ihrer Umgebung, den Spuren, die vergangene Generationen hinterließen, der wechselnden Nutzung urbaner Räume.

Aktionshuas und Lower Ormond Quay

Aus hochauflösenden Scans von bis zu zwölf perspektivisch korrigierten Mittelformat-Negativen entstanden Tableaus, die diese unbeachteten und wenig dokumentierten Alltagsorte in großem Detailreichtum zeigen und die selbst mit Großbildtechnik so nicht zu fotografieren gewesen wären.

Ein Schwarzweißpanorama einer Größe von 2 x 70 Metern zeigt die Liffey Quays in ihrer ganzen innerstädischen Länge. Es soll 2015 in Dublin im öffentlichen Raum installiert werden, nur wenige Meter von den ursprünglichen Aufnahmeorten entfernt.

Da gerade eine junge Generation viele der vor zehn Jahren noch spärlich bewirtschafteten und verfallenden innerstädtischen Viertel für sich entdeckt, ist das öffentliche Interesse für diesen Blick auf die Stadt groß.

Für Auflösungs-Zwecke

Im Frühjahr 2014 veröffentliche ich das erste Mal eine Auswahl von Fotos, bewerbe das Projekt im Internet und besuche Dublin seit 18 Jahren wieder. Mit einem Dubliner Museum planen wir eine Ausstellung für 2015, bei der auch der Dokumentarfilm „Bargaintown“ wieder aufgeführt werden soll.

Neben dem Einfluss von Bernd und Hilla Bechers großformatiger Dokumentarfotografie war für mich besonders die Arbeit der amerikanischen Fotorealisten prägend: Richard Estes, Ralph Goings, aber vor allem John Baeder (und seine Diner-Serien). So wollte ich immer schon Portraits von Menschen machen und von Häusern.

Denn diese Gebäude sprechen in ihrer naiv gestalteten, liebevollen Buntheit für sich: Shopfronts, Schildermalerei und Werbetafeln, denen man die US-amerikanischen Vorbilder deutlich ansieht. Sie erzählen vom Leben in einem armen Land, einem traditionellen Auswanderungsland, in einem Europa vor der Globalisierung.


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Auf einmal war alles anders

21 Jan

Ein Beitrag von: Marius Vieth

Was war das denn bitteschön? Da fotografiert man 285 Tage lang die Straßen von Düsseldorf, packt voller Stolz seinen mühevoll entwickelten eigenen Street-Photography-Stil ein, fliegt hocherkältet 9000 Kilometer nach Süd-Korea, nur um voller Euphorie festzustellen: Der funktioniert hier gar nicht.

Ich habe den Großteil meines 365-Tage-Projektes in Düsseldorf verbracht. Es ist zwar eine Großstadt, aber trotz der üblichen Lamborghini-Burnouts und Champagnerduschen geht es hier sehr gemächlich zu.

Übersichtliche Szenerien, wenige Menschen und Lichter bilden die typischen Bühnen für meine Helden des Alltags. Daraus ist ein sehr sanfter, aufgeräumter und intensiver Stil entstanden.

© Marius Vieth

Vor Seoul war ich bereits in Städten wie New York, Bangkok und Shanghai, allerdings nie mit der Absicht, ernsthaft zu fotografieren. Als ich in den ersten Tagen die Straßen von Seoul fotografieren wollte, fiel es mir schwerer denn je zuvor. Alles war so unaufgeräumt, pulsierend und unruhig.

Ich war völlig in Trance. Das liegt bestimmt an meiner Erkältung, dachte ich mir. Lag es aber nicht, das war wirklich so. Ich versuchte anfangs, Seoul erst einmal auf mich wirken zu lassen. Ganz ohne Hintergedanken. Also ab in die nächste Seitengasse, einen Sochu trinken und etwas auf der Straße essen.

© Marius Vieth

Selbst um 5 Uhr morgens an einem Montag war in der 27-Millionen-Metropole noch so viel los, dass man kaum einer einzelnen Person eine große Bühne wie in Düsseldorf geben konnte. Also versuchte ich nach zahlreichen Versuchen, meinem Stil ein Update zu verpassen: Bühnen kleiner machen, all die störenden Elemente als Ganzes reduzieren und trotzdem einem Menschen unwissend sein Rampenlicht geben.

© Marius Vieth

Irgendwo schwirrte in meinem Kopf immer der Gedanke herum, im Sinne einer Reisedokumentation typische Szenen aus Seoul fotografieren zu müssen. Ich hab’s versucht mit den Sehenswürdigkeiten und Postkartenmotiven, aber es ging und wollte einfach nicht.

Dafür liebe ich diese unscheinbaren, intimen Momente in all der Großstadthektik einfach zu sehr. Im Laufe der Reise begriff ich, dass meine Fotos nicht Seoul sind, sondern ich in Seoul. Und das ist okay so.

© Marius Vieth

Auch, wenn ich die meiste Zeit nachts fotografiert habe, weil die Seele Seouls für mich erst nachts so richtig zum Vorschein kommt, wollte ich trotzdem versuchen, auch tagsüber etwas zu entwickeln. Bei meinem Rundgang durch das entzückende „Bugchon Hanok“-Dorf entdeckte ich eine tolle Bühne mit natürlichem Rampenlicht.

Während der nächsten 40 Minuten wartete ich nervös auf meinen persönlichen Star des Moments und musste permanent an diesen einen Satz denken, den man immer von Regisseuren hört: „Leute, wir verlieren Licht!“ Kurz bevor der Vorhang sich zuzog, erschien dann doch noch meine Traumbesetzung. Puh!

© Marius Vieth

Nachdem ich bereits Thailand und China gesehen hatte, war Korea nun mein drittes asiatisches Land. Eine komplett neue Erfahrung, die ich jedem nur empfehlen kann. Unglaublich leckeres gegrilltes Essen, abgedrehtes Karaoke, wunderschöne Parkanlagen, bezaubernde Natur und wirklich liebenswerte, höfliche Menschen haben diese Reise zu einer der schönsten meines Lebens gemacht.

Na gut, wenn ich schon Werbung für dieses tolle kleine Land hier mache, dann aber auch richtig – mit Postkartenmotiv. Aber pssst.

© Marius Vieth

Rennen, Blau, Weitwinkel, Dunkel, Nacht, Marius Vieth

Seoul war für mich eine riesige Herausforderung. Selten hatte ich das Gefühl gehabt, so viel geschafft zu haben und doch erst ganz am Anfang zu stehen. Ich habe gelernt, dass es kein Ziel gibt. Es gibt nur einen Weg, der mal steinig, mal traumhaft schön ist und in der Regel keine Wegbeschreibung hat. Obwohl das manchmal etwas beängstigend ist, weiß ich eines ganz sicher:

Diesen Weg will ich jeden Tag mit einem Lächeln bestreiten, wo auch immer er mich hinführen wird.


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Alles, was mich am Leben interessiert

09 Jan

Ein Beitrag von: Chema Hernández

Meinen ersten ersthaften Kontakt mit der Fotografie hatte ich an der Universität, an der ich Kunstwissenschaften studierte. Ich interessierte mich für dokumentarische Fotografie und im Besonderen für Cartier-Bressons Arbeiten.

Nachdem ich mich jahrelang der Malerei gewidmet hatte, erwachte mein Interesse mit dem Aufleben der neuen Straßenfotografie im Internet. Dort fand ich Weggefährten mit den gleichen Vorlieben, die ich mit meinem Schaffen konfrontieren konnte. Und natürlich gab es eine ganze Menge Informationen.

© Chema Hernández

Ich nehme an, dass ich kein Fotograf im engeren Sinne bin. Ich mag es einfach, Bilder zu machen indem ich male, zeichne oder fotografiere. Und als Fotograf bin ich daran interessiert, Bilder aus meiner nahen Umgebung zu extrahieren, indem ich den direkten Stil der Schnappschuss-Fotografie auf eine offene, nicht gestellte Art benutze.

© Chema Hernández

Dafür benutze ich eine kleine Kamera, die ich in meine Tasche stecken kann. Wenn ich auf der Straße fotografiere, halte ich für gewöhnlich nicht nach einem bestimmten Thema Ausschau. Ich reagiere auf das, was mir ins Auge fällt: Zum Beispiel eine ungewöhnliche Situation, ein Licht-Effekt oder bestimmte Farben.

© Chema Hernández

Ich bevorzuge suggestive Fotos, die eine Geschichte erzählen, offen sind und dem Betrachter die Möglichkeit geben, das, was er sieht, zu interpretieren.

Manchmal ist der Inhalt des Bildes nicht so wichtig und die formalen Aspekte wecken meine Aufmerksamkeit. Ich versuche meist, eine bestimmte Magie einzufangen. Eine Kombination von Elementen, die unterschiedliche Interpretationen und Emotionen zulassen.

© Chema Hernández

In meinen Fotos treten anonyme Menschen auf. Sie sind Charaktere ohne Identität, deren Funktion die Darstellung menschlicher Archetypen ist. Gewöhnlich bin ich nicht an Gesichtsmerkmalen oder -ausdrücken interessiert, eher an menschlichem Behehmen oder Situationen, in die Menschen involviert sind.

© Chema Hernández

Wenn wir gerade schon beim Stil sind: Ich glaube ich nicht, dass ich einen eigenen habe. Meine Bilder sind unterschiedlich, wie alles, was mich am Leben interessiert. Vielleicht ist das der Stil ohne Stil?

Dieser Artikel wurde von Martin aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.


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Alles was bleibt

25 Nov

Ein Beitrag von: Alex Muchnik und Schuchrat Kurbanov

Man sagt: „Der Hochzeitstag ist der schönste Tag im Leben!“ Das möchten wir auch gar nicht bestreiten – nur: Mittlerweile spricht man über das Hochzeitsgeschäft, in den Städten haben sich Hochzeitsmeilen gebildet, auf denen man alles von A bis Z für die Hochzeit kaufen kann, sei es das Hochzeitskleid oder eine bestimmte Dienstleistung.

Wir beschäftigen uns mit der Hochzeitsfotografie und müssen sagen, es macht uns einerseits Spaß und wir machen unseren Job total gern, aber es ist eben auch ein Job und zwar kein leichter.

Es hat schon in der Universität, Fachbereich Fotografie, angefangen, dass wir uns zusammen entschlossen haben, Hochzeiten zu fotografieren. Diese Idee fanden unsere Kommilitonen aber gar nicht gut und einige haben uns von der Künstlerliste gestrichen.

© Alex Muchnik und Schuchrat Kurbanov

„Aber warum denn nicht?“, dachten wir. Warum können wir nicht Hochzeitsfotografie unter einem künstlerischen Aspekt anbieten? Wir waren von der Idee so überzeugt, dass wir, ohne auf unsere Kommilitonen zu hören, einfach weitergemacht haben.

Es ist uns gelungen, glauben wir, die Kunst mit dem Handwerk zu verbinden und mittlerweile haben wir auch Leute gefunden, die das zu schätzen wissen, was uns sehr freut. Warum Handwerk?

© Alex Muchnik und Schuchrat Kurbanov

Es hat sich im Prozess viel geändert: Heutzutage sind keine Entwicklungsarbeiten in der Dunkelkammer mehr nötig, sondern etwas Ähnliches, dafür aber am Rechner. Ich bin mir nicht sicher, ob es leichter geworden ist, weil man eben am Rechner einfach mehr Möglichkeiten hat.

Auch die Anzahl der Aufnahmen an einem Hochzeitstag hat sich verändert oder besser gesagt vervielfacht.

© Alex Muchnik und Schuchrat Kurbanov

Jeder von uns bringt von einer Hochzeit in etwa 3000 Fotos mit nach Hause. Ein sehr wichtiger Teil der Arbeit ist die Selektion, denn hier kann man die Bilder auswählen, die etwas erzählen oder eine kräftige, lustige, peinliche oder ernste Aussage haben.

Wir sind der Meinung, dass sich schon hier ein bestimmter Stil eines Fotografen oder eines Teams herauskristallisiert.

© Alex Muchnik und Schuchrat Kurbanov

Wir investieren im Schnitt 40 bis 50 Stunden in die Auswahl und Bildbearbeitung. Man kann also ruhig über eine Vollbeschäftigung reden, wenn man über die Hochzeitsfotografie spricht. Es ist nichts für die, die schnell Geld verdienen wollen. Es sind ständig Investitionen nötig.

Einerseits rein Finanzielle, denn jeder von uns braucht zwei bis drei Anzüge pro Saison, andererseits ist es sehr viel Zeit, die man investiert, denn es ist ganz wichtig, zu sehen und zu verstehen, in welche Richtung der Hochzeitstrend geht und was andere Fotografen machen.

© Alex Muchnik und Schuchrat Kurbanov

Der Job ist aber nicht nur Arbeit, sondern gibt auch sehr viel: Es macht uns als Fotografen sehr stark und froh, wenn wir positives Feedback bekommen.

Außerdem erfährt man innerhalb kürzester Zeit, im Schnitt vielleicht zehn Stunden, so viel über das Paar, man gewinnt Freunde und man geht eine besondere Beziehung miteinander ein. Es ist ein sehr schönes Gefühl!

Braut, Spiegelung, Bräutigam

Letztens sagte mir ein Bräutigam: „Ich hätte nie gedacht, dass man an diesem Tag mehr Zeit mit dem Fotografen als mit den Trauzeugen verbringt.“ Wir werden unsere „Kunst“ weitermachen, so lange wir können und dürfen.

Es ist doch der schönste Tag im Leben und es ist toll, dass wir solche Tage im Leben von Anderen miterleben dürfen.

© Alex Muchnik und Schuchrat Kurbanov

Die Torte wird aufgegessen, der DJ wird am nächsten Morgen nach Hause fahren. Den Tag kann man nicht zurückholen; alles was bleibt, sind die Erinnerungen – die Fotos.


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Alles oder Nichts?

17 Apr

Ein Beitrag von: Jörg Rüger

„Wenn weniger mehr ist, ist nichts dann alles?“ Diesen Ausspruch des niederländischen Architekten Rem Koolhaas fand ich so interessant, dass ich ihn gern auf meine fotografischen Arbeiten beziehen wollte.

Nun ist es natürlich wenig sinnvoll, „nichts“ abbilden zu wollen. Aber ich habe den Ausspruch so interpretiert, dass eine deutliche Reduktion dessen, was man abbilden könnte, gleichzeitig ein Mehr an Ausdrucksmöglichkeiten bietet.

Das fand ich sehr interessant, weil bis dahin mein bisheriges Hauptthema – die Fotografie von verlassenen Orten – eine andere Herangehensweise erforderte.

© Jörg Rüger

Mit Koolhaas’ Ausspruch im Hinterkopf ziehe ich also los und suche mir meine Motive. Ich fokussiere mich dabei auf die Architektur oder architektonische Details.

Das Schöne daran ist, dass man diese wirklich überall findet. Ich trete auf die Straße und schon kann es losgehen: Fassaden, Mauern, Zäune, Wände und vieles andere mehr.

Ich bin mir aber gar nicht sicher, ob es denn Architekturfotografie ist, was ich da mache. Denn streng genommen hat diese Spielart der Fotografie eigentlich eher dokumentarischen Charakter.

© Jörg Rüger

Das ist es aber nicht, was ich möchte. Mir ist es nicht wichtig, das große Ganze so abzulichten, wie es jeder sieht. Ganz im Gegenteil, ich möchte mit der Auswahl von geeigneten Bildausschnitten die Motive auf Flächen, Formen, Farben und Strukturen reduzieren und damit das Gesehene abstrahieren.

Die Architektur in meiner Stadt bietet mir viele Möglichkeiten für solch eine Umsetzung. Bei einigen Motiven erkennt man dann noch, um welche Sachen es sich handelt, bei vielen aber auch nicht.

Das ist mir aber auch nicht wichtig, wenngleich die Verfremdung nicht mein eigentliches Ziel ist. Mir geht es darum, mit dieser Art der Fotografie eine veränderte Wahrnehmung der Objekte zu erreichen.

© Jörg Rüger

Die Motive werden hierdurch zu etwas Neuem und erhalten eine Eigenständigkeit. Das Haus, das Dach, das Fenster – alles bekommt eine neue Funktion, indem es zum Fotomotiv wird.

Die so fotografierten Objekte bieten Raum für Assoziationen und erhalten für jeden Betrachter eine andere Aussage oder entfalten eine andere Wirkung. Vielleicht enthalten sie auch keine Aussage, sondern werden nur als schön oder interessant empfunden.

Wenn es mir gelingt, das Interesse des Betrachters zu gewinnen, die Aufmerksamkeit auf ein Foto zu lenken, dann bin ich zufrieden. Und es freut mich, wenn ich dem einen oder anderen mit einer Aufnahme ein Rätsel aufgebe und ihn so zu einer weitergehenden Auseinandersetzung mit dem Motiv anrege.

Diese mittelbare Interaktion mit Betrachtern meiner Bilder macht für mich auch einen der Reize der Fotografie aus.

© Jörg Rüger

Wenn ich also für diese Art von Aufnahmen losziehe, dann habe ich meistens keine konkrete Idee im Kopf, bestenfalls vielleicht einen Ort, an den es mich zieht. Ich bereite solch eine Tour auch nicht weiter vor, weder gedanklich noch konzeptionell.

Wenn ich erst einmal fündig geworden bin, dann entwickelt sich die Sache meist von allein. Ich fange vorsichtig an, zu fotografieren, taste mich an das Motiv oder die Motive heran und dann passiert oft etwas, was für mich den ganz großen Reiz an der Fotografie ausmacht:

Die Sache bekommt eine eigene Dynamik, ich überlege nicht mehr lange, was ich fotografiere, ein Motiv ergibt das nächste und ganz schnell nimmt mich dieser Prozess gefangen und ich merke gar nicht, wie sich meine Speicherkarte füllt.

© Jörg Rüger

So können dann ganz schnell ein paar Stunden ins Land gehen. Das merke ich dann meist erst, wenn das Licht verschwindet oder die Speicherkarten an ihre Kapazitätsgrenzen kommen. Am Ende steht dann ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit.

Zuhause geht es dann am Rechner weiter, wobei das Motiv für mich die Art und den Umfang der Bearbeitung vorgibt. Meistens bearbeite ich nur sehr wenig. Ich ziehe Belichtung und Kontraste an, schärfe etwas nach, korrigiere stürzende Linien und passe vielleicht auch mal den Bildausschnitt an; das sehe ich ganz undogmatisch.

© Jörg Rüger

Für mich gehört die Ausarbeitung einer Aufnahme am Rechner als zweiter Schritt in dem Prozess dazu. Ganz am Ende steht dann die Präsentation der Aufnahmen, denn wie schon ausgeführt ist mir ein Austausch über die Sachen, die ich mache, irgendwie wichtig.

Und anders würde ich ja beispielsweise nicht erfahren, ob ich mit meiner Umsetzung des eingangs erwähnten Zitats richtig liege: Ist weniger an dieser Stelle tatsächlich mehr?


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Essay: Alles darf, nichts muss

25 Aug

Als ich anfing, zu fotografieren, verbrachte ich oft die Zeit damit, mich in Zeitschriften oder Foren über Fotografie zu informieren. Um es gleich vorwegzunehmen: Heute weiß ich, dass ich bessere Zeitschriften hätte lesen sollen und dass es in Foren ungewöhnlich viele Experten gibt. Wortsammlungen wie „knackige Schärfe“, „super Autofokus“ oder „tolle Haptik“ schienen damals so etwas wie eine Art Elfmeter für gute Fotos zu sein.

Dem ist natürlich mitnichten so. Irgendwann ist mir klar geworden, dass ein guter Autofokus und eine hervorragende Schärfenabbildung für viele Fotos meines Geschmackes eher unbedeutend sind.

Hätte ich dieses Foto mit einer kürzeren Belichtungszeit aufgenommen, so dass alles scharf gewesen wäre, hätte das gleiche Objekt möglicherweise eine ganz andere Wirkung auf den Betrachter gehabt. Achtung, nun folgen Mutmaßungen: Vermutlich hätte es Leute gegeben, die darauf geachtet hätten, ob der Bart vernünftig geschnitten ist, die Augenbrauen gezupft wurden, wie die Haare liegen oder welche Form mein Kopf hat.

Da der Betrachter durch die Unschärfe jedoch weniger Informationen zur Verfügung hat, lässt er das Bild anders auf sich wirken. Man könnte auch sagen: Unschärfe betrachtet man im Ganzen, Schärfe im Detail.

Zweifellos braucht es auch Fotos, bei denen Schärfe zwingend notwendig ist, so kann man mit einem unscharfen Fliegen-Makro nur wenige Leute begeistern. Jedoch möchte ich hiermit so manchen Leser auch zum Nachdenken anregen. Muss immer alles perfekt sein? Ist es nicht manchmal viel wichtiger für ein Foto, was es transportieren kann?

Nur, weil die Werbung für eine Kamera oder ein Objektiv meint, dass es von höchster Güte sei und ganz besonders tolle Abbildungsleistungen aufbieten kann, müssen wir noch lange nicht solche scheinbar perfekten Fotos machen. Alles andere als perfekt ist das folgendes Foto. Licht fällt in den Rücken, Gesicht dunkel, die Heizung mag auch stören.

Es gefällt mir trotzdem. Geschmacksache? Ja, bestimmt! Aber was ist nun wieder Geschmack, kann jemand ohne Geschmack behaupten, dass es nicht sein Geschmack ist? Geschmack hin oder her, wichtig ist, was man selbst mag, ob mit oder ohne ich schreib das Wort jetzt nicht noch einmal ist dann am Ende egal.

Sicherlich ist es sinnvoll und auch wichtig, über Fotos zu sprechen, aber warum muss zusätzlich immer soviel über die Technik diskutiert werden? Die Frage nach der Ausrüstung ist an sich noch nicht zu verteufeln, die Gewichtung darauf jedoch schon. Bemerkenswert finde ich, wie oft Objektive empfohlen werden, obwohl man selbst noch kein anderes Objektiv der gleichen Brennweite in der Hand hatte. Getreu dem Motto: „Das habe ich auch und kann es daher nur empfehlen.“

Stattdessen sollten wir uns mehr über Bildaufbau, Perspektive und Lichteinsatz unterhalten. Das hilft gerade Anfängern oftmals viel mehr, als ihnen mit Tech-Talks Kopfschmerzen zu bereiten, weil sie nicht wissen, ob sie sich jetzt das Nikon 50mm 1.4. L Planar oder doch lieber die Canon D700 von ihrem Ersparten kaufen sollen.

Was ist richtig, was ist falsch?

Auf diese Frage kann es keine Antwort geben. Es wird Betrachter geben, die es stört, dass die Person auf dem Foto nicht scharf abgebildet ist und andere werden sagen, dass es dadurch erst interessant wird. Ein Dogma, das aussagt, dass ein unscharfes Foto in Tonne gehört, wird es bei mir jedenfalls nicht geben.


kwerfeldein – Fotografie Magazin

 
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