Wer hier schon länger treu mitliest, mag sich vielleicht noch an einen Artikel erinnern, in dem ich einmal mein Projekt 60-second slices of present vorgestellt habe. Es ging darum, tagsüber im Stadtraum mithilfe von Langzeitbelichtungen absichtlich befremdliche Ergebnisse zu erzielen.
Seitdem ist viel Zeit vergangen und dennoch habe ich an diesem Projekt festgehalten. Was mich inzwischen enorm daran fasziniert, ist, denke ich, wie ich mit dem immer wieder gleichen Versuchsaufbau stets zu neuen und sehr unterschiedlichen Ergebnissen komme.
Das ist auch der Grund, weshalb ich rigide daran festhalte, immer genau 60 Sekunden lang zu belichten. Zum einen handelt es sich um eine gewollte Restriktion, innerhalb derer ich die bestehenden Möglichkeiten auslote und zugleich gefällt mir der symbolische Charakter dieser Zeitspanne: Eine Runde des Sekundenzeigers um das Ziffernblatt.
Was mich darüber hinaus im Verlauf des Projektes immer mehr zu interessieren begann, ist die menschliche Wahrnehmung von Zeit. Eine Fotografie vermag Zeit eben nicht nur momentan einzufrieren, sondern, ganz im Gegenteil, auch zu komprimieren, und zwar in einer Art und Weise, wie wir sie allein mithilfe unserer Sinne nie wahrnehmen könnten.
Ich finde es spannend zu betrachten, wie sich im festgesetzten Zeitrahmen von 60 Sekunden bestimmte kollektive Bewegungsmuster abzeichnen. Das sind erfahrungsgemäß Bewegungen, bei denen möglichst viele Menschen möglichst dicht aufeinander folgen – beispielsweise eine Demonstration, ein Marathon oder ein Verkehrsknotenpunkt zur Hauptbetriebszeit.
Was da als Experiment mit der Zeit begann, hat sich inzwischen zu einer ausgewachsenen Reflexion über das Thema der Stadt entwickelt und darüber, wie der Mensch in Bezug zu seiner gebauten Umgebung steht und den von ihm geschaffenen Raum nutzt.
Angefangen in Berlin, begann ich im vergangenen Jahr, das Projekt geografisch zu erweitern. So fand ich mich im Herbst kurzerhand in Warschau wieder und dieses Jahr zu Ostern schließlich in Rom.
Das geschah natürlich nicht völlig zufällig. Angesichts der erforderlichen, recht schweren Ausrüstung (Stativ und Mittelformatkamera) bedarf es immer einer konkreten Planung. Flexbilität und Spontaneität behalte ich mir dann in der Regel eher für die Erkundung vor Ort vor.
Inspiriert nach Rom zu fahren, war ich durch die Nachricht im Radio über die Wahl des neuen Papstes. Dabei hatte ich sofort ein Bild vor meinem inneren Auge: Den mit Menschenmengen gefüllten Petersplatz. Dieses gedankliche Bild habe ich hier mal anhand einer Skizze visualisiert.
So setzte ich mir also in den Kopf, solch eine Situation einmal in Form einer Langzeitbelichtung aufzunehmen. Und da gerade das Osterfest bevorstand und der neue Papst feierlich seinen Segen „Urbi et Orbi“ erteilt, so würde sich der Petersplatz abermals mit tausenden Gläubigen aus aller Welt füllen.
Der Platz liegt direkt vor dem Petersdom – dem Herzen des Vatikans – und öffnet sich in Richtung der Via della Conciliazione, die bereits zum Territorium Roms gehört. Von 1656 bis 1667 nach den Plänen des römischen Architekten Gian Lorenzo Bernini erbaut, bildet der Platz ein Oval, in seiner Mitte steht ein Obelisk und an den Enden seiner Hauptachse wird er von zwei symmetrischen Kollonaden gerahmt.
Natürlich war es schwierig, die gedachte Perspektive von oben auf den Platz zu bekommen, da man sie eigentlich nur von den nicht öffentlich zugänglichen Dächern der Kollonaden oder einer frei positionierbaren Hebebühne erhalten würde.
Strategisch und weit vorausgedacht wäre die Organisation eines solchen Zugangs durchaus möglich gewesen, nur hätte sie einen zeitlichen, bürokratischen und sicher auch finanziellen Aufwand erfordert, den ich für mein Ein-Mann-Projekt dann doch für etwas überzogen hielt.
Als ich mich nun am Ostersonntag auf den Weg zum Petersplatz machte, war ich überwältigt von den Menschenmassen, die sich alle in die gleiche Richtung bewegten. So brachte ich schließlich fast eine Stunde lang damit zu, diese Bewegung festzuhalten.
Leider hatte dies dann zur Folge, dass ich nicht mehr auf den Petersplatz kam, da er zu diesem Zeitpunkt schon randvoll war. Also beeilte ich mich, um wenigstens noch einen guten Standpunkt auf der Via della Conciliazione mit Blick auf die Benediktionsloggia des Papstes zu ergattern.
Dort fuhr ich das Stativ auf seine volle Höhe aus, womit ich die Kamera etwas über die Köpfe der Menschen gehoben und somit nun trotzdem die Perspektive eines (wenngleich tieffliegenden) Vogels bekam. Mit dem Petersdom im Fluchtpunkt machte ich eine ganze Reihe Blindversuche, denn durch den Schachtsucher meiner Kamera konnte ich ohne Zuhilfenahme einer Leiter nun nicht mehr schauen.
Dieses Bild hier habe ich aus einem Fundus von etwa 20 Versuchen ausgewählt, weil es kompositorisch das gelungenste ist und die Bewegung der Massen nach dem Ende der päpstlichen Ansprache sehr gut wiedergibt.
Wenn ich jetzt im Nachhinein auf das Resultat schaue, das ich mit nach Hause bringen konnte, bin ich sehr zufrieden. Sicher, es entspricht nicht eigentlich der Vorstellung, die ich hatte, aber ich finde es genauso gut. Und letztendlich schlägt nichts die Erfahrung, tatsächlich dort vor Ort gewesen zu sein und das Glück, auf die gegebenen Umstände mit einem zufriedenstellenden Ergebnis reagiert zu haben.
Und ich denke, es ist immer gut, mit einem Bild im Kopf zu beginnen…
Dieses und weitere Bilder aus Rom, die ich im Rahmen des Projektes „60-second slices of present“ erstellt habe, könnt Ihr Euch auf meiner Webseite anschauen.
kwerfeldein – Fotografie Magazin
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