Ein Beitrag von: Jens Olof Lasthein
2012 wurde ich vom Musée de la Photographie in Charleroi eingeladen, um die Stadt nach meinem eigenen Gutdünken zu fotografieren. Diese Chance nahm ich gern an und es stellte sich als der Beginn einer neuen Liebesgeschichte heraus. Die Ausstellung der Bilder folgte im Frühling 2013 und erst vor ein paar Monaten erschien das dazugehörige Buch. Das ist die Geschichte dahinter:
Marchienne-au-Pont
Es ist ein heißer Tag und ich bin schon seit Stunden gelaufen. Nichts passiert wirklich. Die Sonne hämmert auf meinen Schädel und ich habe zu wenig Wasser dabei. Dann, als ich um eine Ecke biege, sehe ich einen Jungen auf einem Rad. Er schwitzt ebenfalls und hat sein T-Shirt ausgezogen, macht kleine Tricks die Straße hoch und runter.
Als er mich sieht, gibt er sich noch mehr Mühe, zu imponieren, dreht eine Runde um mich, prüft die Situation. Wir sehen uns an und ich mache ein paar Bilder. Etwas weiter die Straße runter sehe ich seinen Freund, scheu, auf einem anderen Fahrrad auf ihn warten, den Abstand wahrend. Ich würde ihn gern mit einbeziehen.
Dann hört man einen Ruf vom Ende der Straße. Ich sehe einen Mann, der sich mit langen Schritten nähert. Der Vater. Ohne nachzudenken, weiß ich: Das ist der Moment der Entscheidung. Ich gehe geradewegs auf ihn zu, suche den Blickkontakt und noch bevor ich meinen Mund öffne, um mit den wenigen französischen Worten, die ich kann, meine Anwesenheit zu erklären, sehe ich, dass alles in Ordnung sein wird.
Der Vater und ein Nachbar sind darin vertieft, ein Auto nach einem Unfall wiederzubeleben und die Jungs radeln um sie herum, schauen zu und fordern die elterliche Autorität heraus. Die Männer zeigen mir die Gegend und als wir in den Garten wollen, springt ein riesiger Hund fast über den Zaun, um uns anzuspringen.
Der kleine Garten ist voller Skulpturen: Griechische Nymphen, ein winziger Chopper, steinerne Löwen und Gänse, ein altertümlicher Filmprojektor, ein verrosteter Amboss, ein Springbrunnen mit kleinen Schwänen – alles über die Jahre vom Großvater gesammelt. Später am Nachmittag überreden mich die Jungs, ihnen in den Wald zu folgen, um dort einigen ihrer waghalsigeren Tricks beizuwohnen.
Als wir zurück sind, ist auch der Großvater da. Er durchbohrt mich geradezu mit seinem Blick, als wir uns die Hände schütteln und ich bemerke die blaue Träne, die unter sein rechtes Auge tätowiert ist. Sie setzen sich alle in seinen großen Van und fahren in einer Staubwolke davon und winken energisch auf Wiedersehen.
La Ville Haute
Als ich eine Gruppe junger Marokkaner fotografiere, werde ich von einem Mann mit Pferdeschwanz auf die andere Seite der Straße gerufen. Neckisch lädt er mich dazu ein, ihn auch zu fotografieren, er knöpft sein Shirt auf, beginnt zu posieren und ein warmes Glitzern in seinen Augen wird sichtbar. Ich bin sofort von seiner Offenheit entzückt.
Er trinkt gemeinsam mit ein paar Freunden, seiner jungen Tochter und ihrem Baby ein paar Bier an den Tischen vor einem Pub. Drinnen gibt es einen Billardtisch, wo ein paar Freunde anfangen zu spielen. Ich gehe immer hin und her zwischen draußen und drinnen, trinke Bier, quatsche mit den Leuten und fotografiere. Und dann sehe ich sie.
Sie sitzt ganz allein an der Wand. An den anderen Tischen sitzen ältere Paare, die sich unterhalten, Bier trinken, vor jeder Person stehen zwei Pints, aber diese Frau trinkt an ihrem Tisch elegant ein Glas Rotwein. Ihre etwas traurigen Augen erreichen mich über den Billardtisch hinweg und ich werde geradezu physikalisch zur anderen Seite gezogen.
Wir müssen nichts sagen. Ich hocke mich einfach vor ihr hin, lasse die Linse langsam über die Szenerie schweifen, halte meinen Atem an und hoffe darauf, dass ihre Anmut über dem Bild prangen wird.
Dampremy
Das Abendlicht schwindet und der Regen, der schon seit einer Weile in der Luft hing, beginnt nun zu fallen – und ich bin mir nicht länger sicher, in welcher Richtung eigentlich die Metrostation liegt. Jemand hat einen alten Ledersessel an einer Straßenecke ausgesetzt und als ich ihn fotografiere, hält ein Mann neben mir an, lächelt über die Situation und fragt mich freundlich, ob er mich auf eine Tasse Kaffee nach drinnen einladen dürfe.
Ich verhindere, über den Papageienkäfig zu stolpern und schiebe einen Berg Wäsche und Ölgemälde zur Seite, um auf dem Sofa etwas Platz zum Sitzen zu haben. Mostapha zeigt mir stolz seine Taube und lässt sie mich halten, bevor wir Kaffee trinken und er mir Fotos seiner Karriere als marokkanischer Box-Champion, später -Trainer in Charleroi zeigt. All das, während sein kleiner Hahn mit Federhosen frei in den Zimmern herumläuft.
Der Hahn gehört seiner jüngsten Tochter, die gerade von der Schule nach Hause kommt. Von dem Moment an, in dem sie den Raum betritt, strahlt das Zimmer durch ihre Präsenz. Ihr Name, „Jamila“, der „schön“ heißt, könnte nicht passender gewählt sein und als ihr Blick mich offen und neugierig trifft, enthüllt er das natürlichste Selbstbewussein, das man sich vorstellen kann.
Ihr Vater schmilzt ganz einfach in ihrer Anwesenheit. Ich muss einfach einen Weg finden, um zu abzubilden. Drinnen ist es zu dunkel, also gehen wir nach draußen in ihren kleinen Hinterhof, um die letzten Strahlen des Tageslichts zu erhaschen. Die Luft ist mehr als kühl und sie trägt keine Jacke.
Trotzdem steht sie unglaublich still, hält den Hahn und blickt ernst in meine Augen, während ich langsam Bild für Bild belichte. Als wir wieder nach drinnen in die Wärme gehen, wo ihr Vater singt und seine Laute spielt, macht sie eine Zeichnung eines Mädchens, das ein Kamel durch eine Wüste reitet, an einem großen Kaktus vorbei, mit ihrem Geldbeutel am Schwanz.
Ouest
Ich bin schon ein paar Mal zu dieser Ecke am Kreisverkehr am Rande der Mittelstadt zurückgekommen, die ein bisschen einsam daliegt, wo die Industrie ihre Schornsteine hinter der Hochringstraße hinausragt und wo die Plastikpalmen vor dem brasilianischen Restaurant stehen.
Heute ist mein letzter Tag, ich bin wieder hier, laufe hin und her, warte auf… etwas. Und dann kommt er. Mit seinen dunklen, hypnotischen Augen, einem beeindruckenden Schnäuzer, behaarter Brust und Armen ist er wie die Figur aus einer Fantasiegeschichte.
Mein Herz hört auf zu schlagen, als ich auf ihn zugehe. Wir sehen einander an. Ohne meinen Blick von ihm abzuwenden, mache ich ein Bild. Er geht an mir vorbei und schaut die Straße entlang um die Ecke. Langsam dreht er sich um, bleibt direkt vor mir stehen und durchbohrt mich mit seinem Blick.
Ich mache noch ein Bild, gerade als ein Bus vorbeifährt, der genauso grellgelb ist wie sein Shirt und die Plastikpalmen. Als ich die Kamera herunter nehme, bricht er in ein großes Lachen aus und setzt seinen Weg dorthin, von wo er gekommen ist, fort.
Gilly
Der Verkehr staut sich aus irgendeinem Grund und die Autos bewegen sich langsam entlang der engen Straße. Ein junger Typ ruft mir aus seinem Auto etwas zu und während ich ihn fotografiere, fühle ich etwas im Augenwinkel. Als ich mich umdrehe, blicke ich in das Gesicht eines Mannes, der mich neugierig ansieht und an einer Mauer lehnt, die einen schmalen Weg entlang führt.
Ich werde instinktiv von seinen intensiven Augen angezogen. Normalerweise ziehe ich es vor, nicht zu fragen, bevor ich jemanden fotografiere, aber bei diesem Mann lässt mich irgendetwas meine Taktik ändern, sodass ich ihn frage, ob ich ein Bild von ihm machen darf, als ich die Kamera hebe.
Er hebt nicht einmal eine Augenbraue, als er „pas d’problème“ sagt. Keine weiteren Worte sind nötig und der Lärm der Straße verschwindet, während ich all meine Energie auf ihn konzentriere. Sein Name ist Samir und das ist der Beginn einer Freundschaft und vieler guter Stunden, in denen wir die Straßen entlang gelaufen sind, er mich herumgeführt, mir von seinem Charleroi, seinen Visionen und der Wichtigkeit, dem Leben auf der Straße gegenüber aufmerksam zu sein, erzählt hat.
Marchienne
Es ist der Abend des Halbfinalspiels zwischen Italien und Deutschland bei der Fußball-Europameisterschaft und ich bin auf dem Weg, das Spiel auf einer großen Leinwand beim Stadion zu sehen. Ich erwarte eine aufgekratzte Stimmung, da die Gruppe der italienischen Einwanderer und ihrer Kinder einen großen Teil der Bevölkerung in Charleroi ausmacht.
Aber als ich an Ouest vorbeikomme, sehe ich das magische Licht der untergehenden Sonne, die sich durch dunkle Gewitterwolken über der Industriegegend von Marchienne kämpft. Es ist unwiderstehlich, also verlasse ich den Bus und beginne, durch ein majestätisches Spiel von Licht und Dunkelheit und teilweise peitschendem Regen zu laufen.
Es sind fast keine Autos auf der Straße, alle schauen das Spiel und bald habe ich den Fußball komplett vergessen. Ich treffe Domino, der selbst allein ohne Ziel unterwegs ist und fotografiere ihn zwischen überwachsenen Schienen, sich auflösend vor der untergehenden Sonne.
Wir gehen zusammen weiter, ein Auto hupt und zwei seiner Freunde, die auf dem Weg zu einer Party in Dampremy sind, strecken ihre Köpfe raus. Bevor Domino sich ihnen anschließt, fotografiere ich sie vor einem Hintergrund aus surrealem Licht, den Hochschienen der Metro und den Schornsteinen von Cockeril.
Während die Sonne verschwindet, gehe ich weiter die Rue de la Providence entlang und bald bin ich von tiefem Blau umgeben, nur unterbrochen von den spärlichen Straßenlaternen, begleitet von absoluter Stille. Aber dann, ganz plötzlich, sehe ich ein einzelnes Auto, das sich weit entfernt auf der Straße nähert.
Und es hupt wie wild. Und die Insassen hängen aus den Fenstern heraus. Und jetzt sehe ich auch die italienische Flagge! Innerhalb von zehn Minuten ist die leere Straße, die von Marchienne durch die weite Industriegegend ins Stadtzentrum führt, brechend voll mit hupenden Autos und fröhlich schreienden Italienern.
Während ich der Stadt entgegenlaufe und von der wachsenden Menge umfangen werde, sehe ich noch mehr Flaggen: Spanier, Portugiesen, Marokkaner, Algerier, Türken – alle jubeln und wollen diese gute Party nicht verpassen.
La Ville Basse
Das Dreieck ist eine faszinierende Gegend. Dort treffe ich Auguy und seine Freunde, die abhängen und mit ihren Hunden spielen. Manchmal schreien die Prostituierten mich wütend an, wenn sie mich mit meiner Kamera sehen, andere flirten fröhlich, wollen aber trotzdem nicht fotografiert werden, da sie Familien haben, die nichts von ihrem Nebenjob wissen.
Die Häuser in der Gegend sind teilweise verlassen, eines ist ausgebrannt, die meisten werden abgerissen, wenn das Stadtzentrum wiederaufgebaut wird. An der Ecke eines kleinen Platzes ist eine Bar, die mich schon seit dem ersten Mal in Versuchung führt, als ich ihre rote Holzfassade und das Neonschild mit der Aufschrift „Bar Les Anges“ sah.
Es ist schwer zu sagen warum, aber sie hat eine betörende Aura um sich und an diesem speziellen Tag beschloss ich, sie mir genauer anzusehen. Aber als ich versuche, ein Paar an einem der Außentische zu fotografieren, wird mir gesagt, dass ich lieber verschwinden sollte, wenn ich es nicht gerade vorziehe, mein Gesicht demoliert zu bekommen.
Also folge ich dem Rat, meinem schwächeren Ich unterlegen. Aber meine Neugier siegt doch. Ich lasse mich nicht so einfach verjagen und komme etwas später wieder. Der angsteinflößende Typ ist immer noch da, aber jetzt steht Axel in der Tür, mit einem Auge von einer Augenklappe bedeckt, während er mit seinem gesunden Auge den Platz absucht.
Aus irgendeinem Grund habe ich bei ihm ein gutes Gefühl, also gehe ich geradeaus auf ihn zu und bin sicher, dass er bereit ist, zu spielen. Ebenso sind auch seine Freunde und Freunde seiner Freunde aufgelegt, die für den Rest des Abends und der Nacht vorbeikommen.
…
Ich kam das erste Mal vor einigen Jahren nach Charleroi und sah seine Silhouette durch beschlagene Autoscheiben hindurch, während ich auf den Hochstraßen fuhr. Ich lief die Straßen entlang und hörte mir Geschichten über das Schwarze Land an, das Lang der Kohlebergwerke, und die Rote Stadt, was sich auf das Leuchten der früheren Stahlindustrie bezieht, die Tag und Nacht lief – und irgendwie war ich fasziniert.
Nun war ich zurückgekehrt, um dort mehr Zeit zu verbringen und mehr rauszufinden. Ich sprach mit den Leuten, erfuhr etwas über ihr Leben in der Stadt damals und heute, über die Wellen der Einwanderung der Bergwerksarbeiter aus Südeuropa, Nordafrika und sonstwo, über das florierende Stadtleben als es Arbeit für alle gab, über die Depression, die auf die Schließung der Bergwerke und Industrie folgte, das sich alles zu der Stimmung vermischte, die ich hier fand.
Und ich war von der rauen Schönheit der Stadt und der Leute verführt, die wissen, wie man teilt, die einem Aufmerksamkeit entgegenbringen und sich gegenseitig respektieren. In den letzten Jahren war die Stadt großen Veränderungen unterworfen, die Leute diskutieren, sorgen sich oft darum, was die neuen Zeiten wohl bringen mögen.
Es ist keim Geheimnis, dass es offizielle Bemühungen gibt, das Image von Charleroi zu verändern. Indem man eine Stadt mit glänzenden Fassaden und teuren Mieten kreiert, zielt man darauf ab, wohlhabende Neulinge und erfolgreiche Unternehmen anzuziehen. Hoffentlich denken die Stadtplaner aber auch an die Menschen, die bereits hier leben – jene, die die Träger des einzigartigen und wirklich internationalen Charmes von Charleroi sind.
Die hier gezeigten Bilder stammen aus Jens Olof Lastheins Buch „Home Among Black Hills“*, das aktuell leider vergriffen ist.
Dieser Artikel wurde für Euch von Aileen Wessely aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
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