Ein Beitrag von: Oliver
Entwickeln mit uraltem Rodinal.
In der Fotografie gibt es immer wieder Fabeln und Legenden, die von vielen gern nacherzählt und in allerlei Publikationen verbreitet werden. Das reicht von der Robustheit mechanischer Nikon-Kameras, die angeblich zwei Weltkriege überstehen, über lebensrettende Leica-Kameras, bis hin zum angeblich unverwüstlichen Filmentwickler Agfa Rodinal.
Da kennt meist irgendwer immer irgendwen, der wen kennt, der aus sicherer Quelle weiß, dass in irgendeiner aufgelösten Dunkelkammer noch eine uralte, verstaubte und mit pechschwarzem Inhalt gefüllte Flasche Rodinal gefunden wurde und diese auch noch ganz normal entwickeln würde.
Die meisten dieser Geschichten lassen sich mit etwas Recherche überprüfen, so gibt es durchaus Menschen, die auch heute noch mit einer über fünfzig Jahre alten Nikon F fotografieren. Ebenfalls befindet sich im Leica-Museum in Wetzlar eine Kamera, an deren Gehäuse tatsächlich eine Gewehrkugel abgeprallt ist und dem Fotografen das Leben gerettet hat. Und wie steht es mit der so legendären Haltbarkeit von Rodinal?
Frisches Rodinal ist heutzutage leicht zu bekommen, die bekannten Versandhändler bieten das klassische Rodinal meist als R09 One Shot an und die Produktion wird wohl noch bis zum Sanktnimmerleinstag fortgeführt werden. Aber was ist mit altem, richtig altem Rodinal? Und damit meine ich nicht einmal Wiedervereinigungs- oder Flowerpower-Rodinal, sondern richtiges Weltkriegs- und Kaiser-Wilhelm-Zeugs. Vulgo: Echt alt halt.
Bei einem bekannten Auktionshaus sind die berühmten Dunkelkammerauflösungen zwar schon wieder selten geworden, mit etwas Geduld und Glück finden sich dort aber immer noch wahrliche Schätze. So war es mir möglich, eine geöffnete und benutze Glasflasche und sieben Plastikflaschen Agfa Rodinal zu ersteigern.
Die Plastikflaschen stammten aus den frühen neunziger Jahren und fristen nun ihr Dasein als mein normales Entwicklungs-Rodinal, die Glasflasche stammt aus den späten sechziger oder frühen siebziger Jahren. Schon gut alt, aber immer noch nicht wirklich meinen Vorstellungen entsprechend.
So wollte es wohl der Zufall, dass ich kurze Zeit später über einen vierundvierzig Jahre abgelaufenen Orwo-NP27-Rollfilm sowie eine Flasche Rodinal stolperte, deren Etikett verdächtig nach Jugendstil aussah und deren Innenleben offenbar komplett mit Sediment gefüllt war.
Kurzum, dies musste meine Flasche werden, auch auf die Gefahr hin, dass kein Tropfen Flüssigkeit mehr in der Flasche verblieben war. Um die Sache etwas abzukürzen: Die Flasche wechselte für einige kapitalistische Werteinheiten den Besitzer und die Vorfreude (oder Nervösität?) auf den Inhalt stieg mit jeder neuen Bearbeitung in einem Paketzentrum.
Im gut verschnürrten Paket und einem halben Quadratmeter Luftpolsterfolie fand die Flasche Rodinal dann alsbald den Weg zu mir und ein erstes zaghaftes und gespanntes Schütteln erzeugte das in diesem Moment süßeste Klimpern meines Lebens. Es war also flüssig! Zwischen diesen beiden Sedimentbergen am Boden und dem Verschluss war tatsächlich flüssiges Rodinal.
Jetzt drängte sich in mir natürlich ebenfalls die Frage nach dem Alter auf, für mich ja ein essentieller Bestandteil dieses Experiments. Man könnte ja einfach mal den Hersteller (oder was noch davon übrig ist… hüstel) befragen, aber meine Anfrage bei Agfa-Gevaert ist bis heute unbeantwortet und ich mag ihnen auch nicht sonderlich böse sein. Vermutlich wissen die für Anfragen zuständigen Halbtags-Studenten nicht einmal, was Rodinal überhaupt sein soll.
Dann also selbst suchen. Erster Anhaltspunkt: Das auf auslaufenden Jugendstil hindeutende Etikett der I.G. Farben. Die I.G. Farben wurde 1945 nach dem Krieg von den Alliierten aufgelöst, die Flasche dürfte damit zumindest aus Zeiten des Dritten Reiches stammen. Aber ein Etikett im Jugenstil auf einem Produkt eines Vorzeigeunternehmens vermaledeiter und jämmerlicher Herrenmenschen?
Wohl kaum, zumal ein Treffer im Forum eines bekannten Versandhändlers eine Flasche Rodinal aus dem Dritten Reich zeigte, die neben einem sachlicheren Etikett offenbar auch mit einem Schraubverschluß ausgestattet ist. Meine Flasche hatte entweder einen Gummipfropfen oder einen Korken als Verschluß.
Nach weiterer Recherche dann eine alte Rodinal-Anzeige mit einem pompösen Adler im Etikett, einer völlig anderen Flaschenform und einer Jahresangabe um 1900, aber wirklich sachdienliche Hinweise waren es nicht. Aileen aus der hiesigen Redaktion half mir sehr mit einem Eintrag im Flickr-Forum der Rodinal-Gruppe und meine Vermutung wurde dort bekräftig: Die Flasche stammte aus den zwanziger oder dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.
Es konnte also gar nicht besser werden und mit allen zugedrückten Augen sowie etlichen mitgedrückten Hühneraugen war es also sogar Kaiser-Wilhelm-Zeugs.
Der für diesen Versuch ausgewählt Rollfilm war weitaus unspektakulärer, ein im August 1968 abgelaufener Orwo NP27 mit 400 ISO aus der DDR. Die von Mäusen aus Berlin angeknabberte und leicht muffige Verpackung lies erahnen, dass dieser Film seine besten Tage schon hinter sich hatte.
Wieviel Empfindlichkeit mag ein Film noch haben, der vermutlich über vierzig Jahre ungekühlt in irgendeinem alten Keller herumgelegen hat? In diesem Fall von einem Grauschleier zu reden, wäre sicher schon an der Grenze zur Obszönität, aber das sollte mich nicht davon abhalten, zu tun, was getan werden musste.
Nun ein paar Worte zur Kamera für dieses Experiment: Da ich sehr wenig im Mittelformat arbeite und ein Spiegelreflexsystem daher für mich wenig Sinn macht, ist meine Mittelformatkamera eine Adox Golf 63 S aus den fünfziger Jahren. Prontoverschluss, 75mm f/6.3 Adoxar-Objektiv und ein winziger, nur wenige Milimeter kleiner – naja – Sucher.
Optisch zwar schon etwas mitgenommen, aber sie funktioniert einwandfrei und liefert erstaunlich scharfe Bilder. Welche sechzig Jahre alte Kamera kann das schon von sich behaupten? Drahtauslöser und Stativ sind in diesem Fall per se obligatorisch, mehr als ISO 50 traute ich der Emulsion nun wirklich nicht mehr zu und selbst da quoll mein unbändiger Optimismus bereits links und rechts aus allen Poren heraus.
Zählt man einmal das Alter des Entwicklers, der Kamera und des Films zusammen, so dürften die drei insgesammt um die einhundertneunzig Jahre alt sein. Da drängt sich doch etwas der Gedanke auf, die zwölf Belichtungen des Films in einer ebenfalls betagten Umgebung zu verschießen.
Wie es der Zufall so will, liegt quasi vor meiner Haustür eine zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gebaute und seit vielen, vielen Jahren stillgelegte Eisenbahntrasse. Alte überwucherte Gleise, modrige Prellböcke, ein verkommener Bahnhof und ein über einhundertdreißig Jahre alter Tunnel schienen mir ein überaus passender Rahmen für die ganze Aktion zu sein.
An einem Sonntag im April wurde der Film schließlich in einigen Stunden auf der eben genannten Eisenbahntrasse und unter Zuhilfenahme einer Nikon D3 als Entfernungs- bzw. Belichtungsmesser belichtet. Wieder in meinen vier Wänden angekommen, ging es alsbald daran, an das kostbare Rodinal zu gelangen, ohne die Flasche zu zerstören. Ein erster Versuch, den Verschluss durch Drehen und Ziehen zu öffnen war erfolglos, ein zweiter ebenfalls.
Schnell wurde mir bewusst, dass der Stopfen nicht aus Kork, sondern aus Gummi war und er mit dem sedimentierten Rodinal bombenfest zusammenklebte. Die einzig sinnvolle Lösung schien mir zu sein, mit einem kleinen Bohrer ein Loch durch den Verschluß und durch die feste Sedimentschicht zu bohren, die für eine Standentwicklung benötigte Mindestmenge tropfenweise zu entnehmen, diese zu filtern und die Flasche dann wieder luftdicht mit Wachs zu verschließen.
Das äußerst mühselige Bohren durch das alte Gummi ging nur sehr langsam voran, in meinem Hinterkopf war auch weiterhin die Sorge, der Bohrer könnte vielleicht verkanten und die Flasche oder den Flaschenhals sprengen. Nach einigen Minuten stieß der Bohrer aber unfallfrei durch das Sediment und der Entwickler konnte in Zeitlupe durch die winzige Öffnung tropfen.
Bei der von mir gewählten Standentwicklung brauchte ich 4,85 ml Rodinal. Da durch das Bohren und das schiere Alter der Entwickler allerdings sehr mit Gummiresten und Kristallen verunreinigt war, würde ich alles vor der Verwendung filtern müssen und dabei etwas Verlust erzeugen. Mit 10 ml sollte ich auf der sicheren Seite sein, lieber etwas zu viel als zu wenig.
Trotz kräftigen Schüttelns setzte sich das kleine gebohrte Loch immer wieder rasch mit Sediment und Bohrresten zu, sodass ich am Ende über jeden kleinsten Tropfen froh war und ich nach etwa zwanzig Minuten knappe 10 ml Rodinal aus der Flasche gewinnen konnte.
Für die anschließende Filtrierung spaltete ich ein Papiertaschentuch in seine einzelnen Lagen und ließ den Entwickler dadurch in einen Messbecher laufen. Aus 10 ml Entwickler wurden so knappe 6 ml reines Rodinal.
Nicht viel, aber es langte für eine Entwicklung. Das Loch in der Flasche verstopfte ich grob mit einem zurechtgeschnittenen Ohrenstöpsel, später versiegelte ich noch alles mit Kerzenwachs, auf dass es das alte Zeug noch weiter konserviere.
Die Entwicklung verlief ohne Zwischenfälle, nur meine Anspannung und Nervosität stiegen nach dem Stoppen, Fixieren und Wässern in quasi astronomische Höhen. Dose auf, Spule raus, Spule öffnen, Film raus und ich sah nichts. Ein tropfnasser, blanker Streifen Rollfilm? Sollte etwa alles für die Katz gewesen sein? Noch einmal ganz, ganz genau hinschauen: Was ist das, was sind das für Schemen?
Im Gegenlicht meiner Badezimmerlampe und unter Zuhilfenahme eines weißen Blattes Papier erkannte ich schwach, ganz schwach die Orte und Motive der Eisenbahntrasse! Die ersten Belichtungen waren kaum zu sehen, die späteren, weitaus längeren Belichtungen sind vor einem hellen Hintergrund als schwache Schatten erkennbar. Es hatte tatsächlich funktioniert! Jetzt in Ruhe trocknen lassen, abfotografieren und schauen, was mit moderner Bildbearbeitung noch aus diesen Negativen zu machen ist.
Das Digitalisieren des störrischen und sperrigen Films entwickelte sich zu einer größeren Aufgabe, der Autofokus konnte kaum Strukturen finden und ein optimaler Fokus erwies sich mehr als reine Glückssache. Eine geschlagene Stunde später ging es dann per Photoshop weiter, Farben invertieren, spiegeln und dann die Tonwerte grob zurechtschieben. Aus den fast komplett grauen Bildern schälte sich langsam ein Bild heraus, in der Bildmitte sogar von ganz passabler Qualität.
Der letzt Feinschliff erfolgte dann per Lightroom und die Aufnahmen sehen am Ende wunderschön kaputt, zerstört und alt aus, aber trotzdem detailliert und lebendig. Der Film hatte einfach eine Menge Zeit und Folter hinter sich, Battlescars, wenn man so möchte.
Für mich aber ein voller Erfolg und ein weiterer Grund für das Erlebnis der analogen Fotografie. Kein Photoshop-Filter, keine Lightroom-Vorgabe und kein Hipstamatic-Filter wird so etwas optisch simulieren können. Und erst recht nicht das Gefühl dabei.
Der Mythos des unkaputtbaren Entwicklers hat für mich seine Bestätigung gefunden. Wären alle Rodinal-Vorräte der Welt aufgebraucht, ich würde keine Sekunde zögern, wieder zum Bohrer greifen und es Tropfen für Tropfen aus der alten Flasche heraustropfen lassen.
Aber jetzt entschuldigt mich, ich habe da noch einen 1951 abgelaufenen Eichelberger, bei dem ich nicht einmal die Empfindlichkeit weiß, laut Hersteller aber völlig lichthoffrei und feinkörnig. — Pah, das werden wir ja sehen!
kwerfeldein – Fotografie Magazin
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