Einen Menschen seinem Schatten gegenzuüberstellen, heißt, ihm auch sein Licht zu zeigen. Wenn man einige Male erlebt, wie es ist, zwischen beiden Gegensätzen zu stehen, beginnt man, zu verstehen, wer man ist. Wer zugleich seine Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten und damit kommt er in die Mitte.
Carl Gustav Jung –
Carl Gustav Jung war der Mystiker unter den Vätern (und Müttern) der Psychoanalyse. Während Sigmund Freud sich vorwiegend mit dem Sexualtrieb beschäftigte, erkundete Jung die Psyche des Menschen unter Berücksichtigung eines „kollektiven Unbewussten“. Das kollektive Unbewusste beherbergt psychische Inhalte, die alle Menschen teilen.
Innerhalb der heutigen akademischen Psychologie wird Jung, wie andere psychoanalytische Theoretiker, überwiegend unter historischen Gesichtspunkten behandelt. Ein Hauptgrund, weswegen die Psychoanalyse heute nur noch am Rande an Universitäten gelehrt wird, ist die Tatsache, dass sich einige Annahmen einer empirischen Prüfung entziehen.
Wer sich mit den Schriften von Jung auseinandersetzt, wird zudem schnell bemerken, dass einige Begriffe unscharf definiert sind und teilweise widersprüchlich verwendet werden. Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit Jung als einem bedeutsamen Wegbereiter der heutigen Psychologie wichtig.
Solch eine Auseinandersetzung wagt der junge schwedische Künstler Gabriel Isak (Jahrgang 1990), der sich in seiner Serie „der Schatten und das Selbst“ auf die theoretischen Überlegungen von Jung zum Schatten bezieht. Doch was hat es mit dem Schatten auf sich? Um Euch die Serie von Gabriel Isak näherzubringen, möchte ich ein wenig auf den Gedankenpfaden von Meister Jung wandeln.
Der Schatten ist einer der wichtigsten Archetypen in der Analytischen Psychologie nach Jung. Unter dem Begriff Archetyp versteht Jung Urbilder, die dem kollektiven Gedächtnis entspringen und das Erleben sowie Verhalten eines Menschen unbewusst beeinflussen. Unter „kollektiv“ kann man hier verstehen, dass alle Menschen bestimmte Persönlichkeitszüge in unterschiedlicher Ausprägung teilen.
Der Archetyp des Schattens steht in Jungs Werken für unerwünschte Persönlichkeitsanteile, die ins Unbewusste abgeschoben werden. Zu diesen unerwünschten Persönlichkeitsanteilen können Erwartungen von Anderen, soziale Regeln, sich aufdrängende Wünsche oder äußere Anforderungen an das Selbst zählen. „Der Schatten ist alles das, was du auch bist, aber auf keinen Fall sein willst“, so Jung.
Dem Schatten steht die „Persona“ und die „Seele“ gegenüber. Laut Jung stellt die Persona jenen Teil der Persönlichkeit dar, die normatives, sozial verträgliches Verhalten steuert. Solche sozial verträglichen Verhaltensweisen werden von Menschen über den Verlauf ihrer Entwicklung erworben.
Ein Mensch kann nach Jung nur dann authentisch sein, wenn sich die Persona mit der „Seele“, die nach Jung den Kern der Individualität ausmacht, im Gleichgewicht hält. Übersetzt heißt das in etwa, dass man sich nicht nur nach externen Vorgaben (z.B. gesellschaftlichen Regeln) richten, sondern auch erkunden sollte, wer man unabhängig von Anderen ist.
Eine bedeutsame Frage ist nun, welchen Ausweg es aus Spannungen zwischen der der Persona und der Seele gibt. Der Schatten spielt in dieser Auseinandersetzung eine besondere Rolle. Die Kenner unter Euch werden der Schatten, die Persona und die Seele an Freuds Es, Über-Ich und Ich erinnern. Zur Lösung der Spannung zwischen den drei psychischen Teilen macht Jung ähnliche (aber im Detail nicht identische) Vorschläge wie Freud.
Um innerpsychische Spannungen im Zaum zu halten, können nach Jung Abwehrmechanismen greifen. Unangenehme Persönlichkeitsanteile werden vom Schatten aufgenommen und unter Verschluß gehalten. Nicht immer gelingt dies vollständig, so dass andere, unreifere Abwehrmechanismen wirksam werden können.
Jung spricht beispielsweise davon, dass die Inhalte des Schattens auf andere Personen projiziert werden können. Das heißt, man nimmt eigene unangenehme Impulse an Anderen verstärkt wahr. Solche und andere Abwehrmechnismen dienen zwar der psychischen Stabilisierung, können aber zwischenmenschliche Beziehungen belasten.
Abwehrmechanismen können daher unter bestimmten Umständen zu psychischen Leidensdruck führen. Für eine Reifung eines jeden Menschen ist nach Jung daher die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten bedeutsam. Das heißt, es gilt, den eigenen Schatten (unbewusste Aspekte des Selbst) zu erkennen, zu akzeptieren und in die eigene Persönlichkeit (Seele) zu integrieren.
Der Zugang zu Inhalten des Schattens ist nach Jung über Träume möglich. Der Archetyp des Schattens, so führt Jung aus, tauche manchmal in Form eines bedrohlichen Widersachers oder eines Feindes auf. Die Auseinandersetzung mit dem Schatten (also mit unbewussten Persönlichkeitsanteilen) kann dazu führen, dass Menschen diese in ihre Gesamtpersönlichkeit integrieren. Dadurch werden sie für neue Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten offen.
Bedrohlich wirkt die Konsequenz, die Jung dem zuschreibt, der sich nicht seinem Schatten stellen kann: „Wenn eine innere Situation nicht bewusst gemacht wird, erscheint sie im Außen als Schicksal.“ Wenn Anteile des Schattens ungenügend in die Gesamtpersönlichkeit integriert sind, so resultieren negative Gedanken und Gefühle.
Unter diesen eben genannten inhaltlichen Aspekten ist die Serie „der Schatten und das Selbst“ von Gabriel Isak spannend. Isak nutzt die Fotografie als Mittel, um surreale Szenen zu erschaffen, die die Interaktion zwischen bewussten und unbewussten Persönlichkeitsanteilen visualisieren.
Bezugnehmend auf Jungs mythologische Abhandlungen zum Selbst verwendet Isak vorwiegend Grautöne, Schwarz und ein leichtes Blau, um eine düstere Stimmung zu erzeugen.
Gabriel Isak schafft verschiedene Bilder, die verdeutlichen, wie der eigene Schatten die Seele beeinflussen kann. Besonders interessant ist das Mittel der grafischen Verfremdung, um eine höhere Abstraktion zu erreichen.
Dadurch wirken die Arbeiten von Gabriel Isak, auch ohne intensives Studium von C. G. Jungs Schriften, wahrscheinlich genau so wie es Jung gewollt hätte: Auf der Ebene eines kollektiven Gedächtnisses versteht man die Bilder und setzt sie zu eigenen Erlebens- und Verhaltensweisen in Bezug.
Über ein visuelles Medium, die künstlerische Fotografie, kann also eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten ermöglicht werden. Ich bin mir nicht ganz sicher, will aber mutmaßen, dass C. G. Jung Gabriel Isak gern auf die Schulter geklopft hätte.
Ich schüttele ihm dazu noch die Hand und freue mich, dass ein junger Fotograf nicht nur eine ästhetische, sondern auch inhaltlich interessante Arbeit geschaffen hat. Von Gabriel Isak werden wir sicher noch einiges hören.
Gabriel Isak studiert derzeit in San Francisco Fotografie an der Academy of Art University. Seine Arbeiten kann man auf seiner Webseite besichtigen.
kwerfeldein – Fotografie Magazin | Fotocommunity
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