Ein Beitrag von: Chris Hieronimus
Vermutlich wusste er, dass er mich gleich mit so einer Idee begeistern kann, als mein Freund Samuel mich fragte, ob ich ihn auf eine Fotoreise nach Südindien begleiten wolle. Was für eine Frage – natürlich! Denn mein Herz schlägt ohnehin für den tropischen Teil des asiatischen Kontinents.
Die Rahmenbedingungen waren etwas vage und abenteuerlich, also genau nach meinem Geschmack. Samuel kam über einen Freund aus dem südindischen Chennai, den er aus Studienzeiten kannte, auf die Idee.
Neben Reise- und Straßenfotografie sollten dort über verschiedene Kontakte einige Fotoshootings mit Familien möglich sein – und im besten Fall eine Hochzeitsreportage.
Ob es tatsächlich dazu kommen, wie das aussehen und wann es stattfinden würde, war nicht sicher. Dennoch: Grund genug für uns, einfach Flüge zu buchen und zu schauen, was auf uns zu kommen würde.
Der kurzerhand ausgeliehene Reiseführer sagte: „Chennai macht auf den ersten Blick nicht gerade einen guten Eindruck.“ Na toll. „Die Straßen sind verstopft, es ist drückend heiß, ein dicker Smog hängt in der Luft und wirklich interessante Sehenswürdigkeiten sind eher dünn gesät.“
Nachdem meine Stimmung beim Lesen dieser Zeilen etwas zu kippen drohte, wurde mir klar, dass es kaum besser sein könnte. Immerhin wollten wir Land und Leute kennen lernen, etwas Kultur mitbekommen und durch die Kamera am alltäglichen Leben teilnehmen.
Hätten wir uns die Zeit an Souvenir-Ständen und Sehenswürdigkeiten vertreiben wollen, hätten wir wohl Flüge nach Goa buchen müssen.
17 Stunden und einen Temperatursprung von 25 °C später saßen wir bei einem Tee im Hostel und besprachen die Woche. Während wir auf dem Flug noch diskutiert hatten, wie wir in einer fremden 8-Millionen-Einwohner-Stadt nach Fotolocations suchen sollten, klärte unser Gastgeber in einem Gespräch alle Fragen.
Er hatte nämlich bereits alles organisiert: Die schönsten Ecken der Gegend angepeilt, für jeden Tag ein anderes Fotoshooting organisiert und uns mit Verhaltenstipps zur Kultur versorgt. Allein hätten wir niemals so viel aus dieser kurzen Reise machen können.
In einem kulturellen und religiösen Konglomerat wie Indien lässt es sich nicht so einfach drauflos fotografieren. Wir wurden gebeten, nicht zu offensiv fremde Frauen zu fotografieren, denn damit würden wir uns garantiert Ärger einhandeln. Männer dagegen wären meist offen für Fotos.
Je nach Stadtviertel, liberaler oder konservativer Lebensweise der Menschen passten wir unsere fotografischen Gewohnheiten der Umgebung an. Meine übliche Strategie – breit Lächeln und Reaktionen abwarten – funktionierte zwar meistens, je nach Reaktion unterließ ich es aber doch oft, einfach die Kamera zu heben und abzudrücken.
Ich habe diese fixe Idee im Kopf, keine Fotos um den Preis der Respektlosigkeit schießen zu wollen. Das ist mein persönliches Empfinden, ich stelle keine Regeln auf. Das ständige Dilemma ist eben, dass man nur unauffällig oder sehr offensiv nicht-gestellte, natürliche Bilder bekommt, zumindest meinem Erfahrungshorizont nach. Ansprechen und um Erlaubnis bitten resultiert dann meist in gestellten, oft unsicher lächelnden Posen der Leute.
Für uns ein herausfordernder Balanceakt, den wir als sehr spannend und bereichernd empfanden, auf der Suche nach dem eigenen Stil, dem jeweils passenden Vorgehen.
Gespickt waren all diese Begegnungen mit kostbaren Momenten, in denen wir jemandem lächelnd zunicken durften und der anschließende Blick auf das Kameradisplay die Vorfreude darauf steigerte, die entstandenen Bilder am Ende des Tages in voller Größe bestaunen zu können.
Das nächste Thema, mit dem wir uns auseinander setzen mussten, war die Schnittstelle von Fotografie und Armut. Ohne eine ethische Debatte vom Zaun brechen zu wollen, gebe ich einfach die Gedanken wieder, die ich dazu hatte.
Erst kürzlich hatte ich die Serie einer britischen Fotografin gesehen, die obdachlose Menschen so portraitierte, wie sie gern gesehen werden möchten.
Vor Ort durch Slumviertel zu spazieren, Menschen in sozialem und wirtschaftlichem Elend zu fotografieren, um anschließend meinen Flickr-Stream damit zu füttern, kam mir nicht richtig vor.
Wäre ich in einer anderen Funktion dort gewesen, etwa um in irgendeiner Form Unterstützung zu bieten, hätte ich vielleicht anders entschieden. Aber als Tourist, der durch seine Kamera Menschen als Motive wahrnimmt, wollte ich diese Grenze des Respekts nicht überschreiten.
Die Grenze zu dokumentarischer Reisefotografie verschwimmt natürlich oftmals. So waren wir auch am Marina Beach, wo 2004 ein Tsunami Verwüstung hinterließ, dessen Spuren heute noch deutlich sichtbar sind.
Ich habe versucht, einen sensiblen Blick dafür zu behalten, wann ich ein Bild mit meiner Ethik in Einklang bringen kann und wann nicht. Dabei war ich einerseits sehr vorsichtig, andererseits wollte ich auch Betrachtern meiner Fotos die Gelegenheit geben, selbst zu prüfen, was ein Bild in ihnen auslöst.
Eine Regel, die ich mir selbst auferlegt habe, ist die, keine Menschen von oben herab zu fotografieren. Wenn ich es als richtig empfand, ein Kind auf der Straße zu fotografieren, dann ging ich zumindest auf Augenhöhe.
Zum einen, weil es in der Situation weniger nach von-oben-herab aussieht und ich besser mit der Person in Kontakt treten kann, und zum anderen, weil es die Bildwirkung enorm verändert. Dasselbe gilt für Fotos aus der fahrenden Rikscha heraus.
Davon habe ich zwar eine Menge, aber hinter jedem steckt die bewusste Entscheidung für das Foto, selbst bei schnellen Schnappschüssen. Viele davon sind direkt wieder gelöscht worden, auch wenn sie nicht völlig verwackelt oder anders für „mangelhaft“ befunden wurden.
Letztendlich können unsere Reisefotos ohnehin nur als das gesehen werden, was sie sind: Die Perspektive zweier vergleichsweise reicher Europäer, die als Gäste ein fremdes Land besuchen.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf haben wir uns also aufgemacht und jeden Tag, neben den vereinbarten Shootings, die Straßen Chennais fotografiert. Ständig fanden wir unter der hohen, brennenden Sonne hartes Licht, knallende Farben und starke Kontraste.
Je weiter die Sonne wandert, desto schöner wird das Licht und zur Dämmerung kommt noch einmal mehr Leben in die Straßen. Kinder spielen am Strand, Hunde dösen im Schatten und das Leben auf den Märkten pulsiert.
Samuel hatte sich vorgenommen, auf dieser Reise alles so zu nehmen, wie es kam. Das beinhaltete auch, nicht auf das perfekte Setting für unsere Fotos warten zu können, bis das Licht so stimmte, wie wir es gern gehabt hätten.
Es hieß, mit den Umständen zu arbeiten, wie wir sie vorfanden. Und wenn die Sonne mittags bei 42 °C den eigenen Schatten senkrecht in den Sand brannte, dann haben wir das so angenommen. Die Geschichte um die eingangs erwähnte geplante Hochzeit wurde immer seltsamer. Für uns unvorstellbar, dass in der selben Woche noch nicht klar war, wann und wo die Trauung stattfindet.
Eine kurze Erklärung des Hintergrunds lichtete den Schleier: Die Braut kommt aus einer hinduistischen Familie, der Bräutigam aus christlich geprägtem Hintergrund.
Aus interreligiösen Konflikten heraus hatte sich das Brautpaar entschieden, die Hochzeitszeremonie spontan und geheim zu halten, da die Familien mit der Eheschließung nicht einverstanden waren.
Daher erfuhren wir am zweiten Tag unserer Reise, dass die Hochzeit noch am selben Nachmittag stattfinden sollte. Aus der großen, pompösen indischen Hochzeit, die wir uns vorgestellt hatten, wurde so eine kleine, unspektakuläre, aber spannende Zeremonie.
So befremdlich die Situation für uns auch war, fühlten wir uns doch sehr geehrt, diesen Moment festhalten zu dürfen – und waren erstaunt über den Mut der frisch Verheirateten. Mir war es bei dieser Reise wichtig, Beziehungen aufzubauen und mich nicht einfach hinter meiner Kamera zu verstecken.
Ich wollte direkt in Kontakt treten mit den Menschen, denen ich begegne, auch wenn es nur kurz war, ein wenig in andere Lebenswelten eintauchen und einen Augenblick teilen. Jeden Tag stellten wir erneut fest, wie wertvoll unser Gastgeber für uns als Führer war.
Uns wurden nicht nur die schönsten Gegenden und faszinierende Menschen vor die Kamera geführt, wir durften Kultur und Familienleben auch auf einer ganz persönlichen Ebene und mit allen Sinnen erleben.
Rückblickend bleibt ein reicher Schatz an Begegnungen, Erfahrungen und Eindrücken sowie das Gefühl, nicht einmal ansatzweise erahnen zu können, was dieses farbenprächtige und vielfältige Land und seine wundervollen Bewohner ausmacht. Also komme ich um eine Fortsetzung wohl nicht herum.
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