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Leica M9: kein Testbericht einer alten Lady

15 Dec

Ein Kopfstand auf einem Skateboard

Ein Beitrag von: Roman Tripler

Wie alles anfing: Als ich mich entschlossen hatte, das Knipsen sein zu lassen und fortan fotografieren zu wollen, ging ich, meinem damaligen Budget entsprechend und den Ratschlägen eines befreundeten Fotografen folgend, auf die Suche nach einer passenden Kamera.

Nach reiflichen Überlegungen und viel Gewühl in Zeitschriften wurde es eine Nikon D60 mit 18 – 55 mm Kit-Objektiv. Bis ich von völliger Ahnungslosigkeit zu einigermaßen vertretbaren Ergebnissen kam, verging einige Zeit und es waren nicht wenige Experimente und noch mehr Zeitschriften nötig.

Ich kannte irgendwann die Funktionen der Kamera, kaufte wie von Sinnen Objektive, Blitz, Funkauslöser und einiges mehr an „nützlichem“ Zeug. Irgendwann war dann die D60 keine befriedigend gute Kamera mehr und ich brauchte dringend eine neue.

Da halfen auch nicht die handwerklichen Fertigkeiten, die ich durch meinen Beruf als Bildbearbeiter einer Werbeagentur besaß. Es war mir zudem peinlich, bei einigermaßen guten Bildern mit einer solch kleinen Knipsbüx herumzurennen und ich brauchte dringend Megapixel, Schärfe usw. – das ganze Programm eben.

Eine Frau raucht

Unabhängig von meiner eigenen Fotografie habe ich seit meiner Jugend ein Interesse an Bildern anderer Fotografen gehabt. Ich habe diese sogar aus Zeitschriften ausgerissen und gesammelt, bis ein Umzug eine randvolle Kiste und einige Aktenordner voll verschwinden ließ.

Geblieben ist aber eine Erkenntnis, die ich durch diese Bilder hatte: Die meisten meiner favorisierten Fotografen nutzen eine kleine, eher unscheinbare Kamera, die sich Leica M nannte.

Nachdem mich nun viele weitere Testberichte zunehmend verunsicherten, welche Kamera dieses Mal die meinige wird, tauchten gegenwärtig immer wieder Vergleichstests der Platzhirsche von Nikon und Canon gegen die kürzlich erschienene kleine M9 von Leica auf. Dann hab ich den Preis gesehen, mal herzhaft gelacht und mich wieder den Testberichten gewidmet.

Ich fasse das mal zusammen: Eine Kamera, die keinen Autofokus hat, für die es keine echten Zoomobjektive gibt und die nur eine Automatik hat: Das kann nix taugen. Und dann der Preis – lachhaft. Aber mit solchen Kameras haben die damals die Bilder gemacht, die mich heute noch einfangen und die nicht durch verschwenderische Bildbearbeitung eine glutamatartige Würze aufwiesen. Wie geht das?

Ein Junge mit Hut

Ein junger man mit Gesichts Make Up

Es kam irgendwann der Zeitpunkt, an dem der erste Frust aufbrannte, mir kein Bild mehr so gelang, wie ich es vor meinem geistigen Auge hatte und ich erschreckend nah dran war, aufzuhören. Meine Frau grinste und sagte, dass es jetzt zwei Möglichkeiten gäbe: Entweder, das ganze Gelump wird schnellstens verkauft, dass es gerade noch etwas abwirft oder ich mach’s mit dem Fotografieren jetzt richtig.

Entscheidungen

Ich hab dann alles verkauft. Naja, alles bis auf den Body der D60 und die Standardlinste mit 18 – 55 mm, f/3,5 – 5,6 ohne Stabilisator und habe mit diesen ersten Paar Kröten begonnen, für die Leica M9 zu sparen. Dass es noch einige Zeit dauern würde, bis ich den Betrag zusammen haben würde, war mir klar.

Mir war aber nicht klar, dass die D60 ein toller wie erstaunlich fähiger Begleiter und die Linse darauf zwar nicht lichtstark, doch im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein ziemlich zuverlässiger und treuer Freund würde. Ohne krampfige Gedanken an die Technik funktionierte es auf einmal wieder mit dem Fotografieren.

An dieser Stelle könnte man sich fragen, warum ich solch eine ausschweifende Einleitung schreibe und wann ich endlich von meinen Erfahrungen mit der M9 berichte. Die ersten Erfahrungen teile ich bereits, denn diese Vorfreude und das Auseinandersetzen mit dem Thema haben mir ein anderes Bewusstsein beschert. Diesen Weg, den ich im Zickzack gegangen bin, gehen viele Fotografen mit vergleichbaren Gedanken, Zweifeln und teils sinnigen, teils unsinnigen Handlungen.

Das beweisen mir die E-Mails mit Fragen nach Kameras, die fast täglich mein Postfach erreichen. Ich möchte mit der Einleitung den oftmals quälenden Zustand beschreiben und eine weitere Erkenntnis mitteilen: Nämlich die, dass eine D60 auch heute noch eine richtig gute Kamera ist und dass so eine Entwicklung dazu beiträgt, die eigenen Bedürfnisse sowie die dazu passende Kamera zu finden.

Eine Frau spiegelt sich in einem Eingang

Ich hatte irgendwann genug Geld zusammen. Inzwischen war die M9P erschienen, die etwas teurere, dafür aber unauffälligere Variante mit weniger Leica-Branding und bruchsicherem Glas. Und es gab da irgendwo im Ruhrgebiet eine Arztfrau, die frustriert über das Geschenk ihres Mannes war.

Eine Kamera, sündhaft teuer, die kein Live-View beherrschte, keinen blitzschnellen Autofokus besaß und ausschaute, als besäße sie jemand seit dem zweiten Weltkrieg. Diesem Umstand und der Vorliebe für zeitlose Designs verdanke ich meine M9P zu einem Preis, der ordentlich unter dem herkömmlichen Ladenpreis war. Die zwei Dutzend Auslösungen der ahnungslosen Dame störten mich nicht.

Blick auf einen mann durch ein Schaufenster

Der Umgang mit der Kamera

Ich lernte die Kamera anfangs mit einem geliehenen 50-mm-Summicron kennen und experimentierte viel. Es hat keine Woche gedauert, bis ich das manuelle Fokussieren begriffen und ausreichend verinnerlicht hatte, dass ich zügig scharf stellen konnte. Ich war sogar überrascht, dass ich nahezu keine zeitlichen Einbußen im Vergleich zur DSLR hatte.

Die Funktionsvielfalt der DSLR schöpfte ich auf der Straße ohnehin nicht aus und weil die Leica nicht viel mehr als die Grundbedürfnisse des Fotografierens bedient, war ich daher eher erleichtert, mich im aufgeräumten Menü zurechtzufinden und mich um gar nicht so viel kümmern zu müssen.

Mit das Angenehmste, das mir aufgefallen ist, war eine spürbare Entschleunigung beim Fotografieren. Hat man einmal grob die Entfernung eingestellt, muss man keine großen Kapriolen mehr am Fokusring vollführen, wenn man nicht planlos herumhampelt und ständig drastisch die Entfernung zu möglichen Motiven verändert.

Das geschieht sowieso nur dann, wenn man keine wirkliche Idee hat, was man fotografieren möchte und jedem potentiellen Big Picture, das sowieso keines wird, hinterherhechtet. Bei ausreichend Licht kann ich durch die Straßen ziehen und brauche so gut wie gar nicht mehr fokussieren. Beispielsweise stelle ich, wenn ich faul bin, Blende 8 ein und fokussiere hyperfokal, so ist ab etwas mehr als einem Meter Abstand alles scharf und ich kann mich rein auf den Ausschnitt konzentrieren.

Ein Kopfstand auf einem Skateboard

So wie die Aufmerksamkeit für die Kameraeinstellungen schwand, so sehr vervielfachte sich die Aufmerksamkeit für die Umgebung. Es war extrem befriedigend, denn ich hatte nun das Gefühl, zu fotografieren, also so richtig zu fotografieren.

Die Kamera bringt einen förmlich dazu, eine Situation intensiver zu lesen, zu antizipieren, was geschieht. Die Komposition des Bildes formal und inhaltlich bekommt einen anderen Stellenwert. Man beginnt zudem, sich mit den Grundlagen der Fotografie zu beschäftigen, beispielsweise die Zusammenhänge von ISO, Blende und Zeit zu verstehen um auch in schwierigeren Situationen gewappnet zu sein.

Am Ende eines Fototages waren dann auf einmal keine 500 Bilder mehr auf der Speicherkarte, sondern nur noch 100, davon „saßen“ aber deutlich mehr als je zuvor. Zudem verziehen die Linsen es einem, wenn man nicht hundertprozentig auf den Punkt fokussierte. Das Bild barg eine nicht eindeutig definierbare Natürlichkeit, die ich von der D60 und auch von anderen digitalen Kameras, die ich mittlerweile in der Firma nutzte, so nicht kannte.

Mit 50 mm war ich mit dem Abstand, den ich persönlich für den richtigen hielt, jedoch zu nah am Geschehen und so schoß ich mir bei eBay ein Summicron 35 mm IV von 1991. Das Glas sah fabrikneu aus, mein Setup war nun perfekt. Mittlerweile gibt es Kameras, die gar keine Geräusche mehr verursachen und noch unauffälliger sind als man es mit der Leica ist, aber ich brauche das Geräusch des Auslösens um zu realisieren, dass ich das Bild tatsächlich auch gemacht habe und genieße es jedes Mal, wenn ich diese urige Mechanik wahrnehme.

Sie ist tatsächlich noch mechanisch und kein Bestandteil eines digitalen Soundsets. Das seit Jahrzehnten marginal veränderte Design der M lädt zudem viele Menschen ein, mit mir darüber zu sprechen, weil eine uralte Kiste von Opa dahinter vermutet wird und ich von Passanten somit als Fotograf wahrgenommen werde. Der unliebsame Paparazzi-Faktor von Fotografen mit riesigen Bodies nebst aufgeschnalltem Kanonenrohr verschwindet spurlos.

Ein Kind isst Zuckerwatte

Die M9 im Dunkeln

Ich hab mich lange gescheut, Konzerte mit der Leica zu fotografieren. Man sagt, bei ISO 800 sei bei der M9 finito. Das ist Unsinn. Wenn nicht gerade die Sonne zu grell scheint, habe ich meist ISO 800 eingestellt, weil mich das dezente Rauschen an das Korn der Abzüge meiner Vorbilder erinnert. Bei zunehmender Dunkelheit wird das Rauschen zwar stärker und die M9P hält sicher nicht mehr mit den gängigen Nachtsichtgeräten mit, doch gehe ich nicht selten bis zur maximalen ISO von 2500 hoch.

Klar ist auch da irgendwann ein Limit erreicht, aber es bleibt dieses analoge Gefühl in den Bildern und die Ergebnisse sind durchaus gut. Darf’s ein wenig mehr sein? Ja, natürllich, deswegen liebäugle ich mit der Leica M Monochrom, weil ich ohnehin nur schwarzweiß fotografiere. Ich hätte sie mir auch gleich gekauft bzw. das halbe Jahr gewartet, hätte ich gewusst, dass sie erscheint. Aber wie damals mit der Nikon sehe ich, wie gut die M9 2014 samt Linsen trotz ihres für digitale Verhältnisse „hohen Alters“ ist.

Ein Musiker bei einem Konzert

Und macht die gute Bilder?

Die M9 ist 2009 am Markt eingeführt worden und stand damals als kleinste vollformatige Systemkamera für überragende Bildqualität. Selbst fünf Jahre später sind die Ergebnisse bei optimalen Bedingungen und richtiger Belichtung wirklich schwer zu schlagen. Fotografiere ich JPGs, so bekomme ich Abbildungen der Umgebung, die meinem Sehempfinden entsprechen und eine Prise leicaesquen Charmes enthalten, von dem man hier und dort hören kann.

Fotografiere ich in RAW, habe ich ein unglaubliches Spektrum an Bearbeitungsmöglichkeiten. Ich erwähnte, dass ich Bildbearbeiter bin. Ich bin es also gewohnt, Bilder unterschiedlichster Kameras zu bekommen und zu bearbeiten. Die RAWs der Leica sind bis auf den einzelnen Pixel „sauber“ und bieten mir sensiblen Spielraum für dezente wie große Anpassungen, wo ich bei RAWs von Canon und Nikon im gleichen Preissegment schon mal Schwierigkeiten bekomme.

An dieser Stelle erinnere ich mich aber an meine alte D60 und daran, dass ich eine Ausstellung mit knackscharfen Abzügen der Größe 80 x 50 cm hatte. Und bevor irgendwelche Linienzähler auf die Barrikaden gehen: Geht in eine Ausstellung irgendeines Magnum-Fotografen und macht mit Eurer 1000-Gigapixel-ISO-5000000-Knipse so fesselnde Bilder wie die Mädels und Jungs, deren Bilder Ihr dort seht. Dann bin ich beeindruckt.

Ein Mann steht vor einem Haus

Was ich abschließend sagen möchte

Wer vor der Wahl einer neuen Kamera steht, sollte sich zuerst immer fragen, was fotografiert werden soll. Zum Ausprobieren oder zur fotografischen Selbstfindung ist die Anschaffung teuren Geräts meist Unsinn, selbst, wenn die Leica mir bei meinem Weg geholfen hat. Ich hatte allerdings schon eine ziemlich genaue, wenn auch nicht hinreichend formulierte Idee davon, was ich machen wollte.

Wer nur probiert, sollte sich nichts Größeres holen, wie die Nikon D60, es sei denn, Geld spielt keine Rolle. Aber selbst dann verleitet der Glaube an Megapixel und Co. zu Faulheit und man überlässt der Kamera schnell die eigentliche Arbeit am Bild. Das Ergebnis wird tendenziell enttäuschender sein.

Die Leica M9 ist das, wofür sie entwickelt und gebaut wurde: Ein Fotoapparat. Auf höchstem Niveau entwickelt, dem digitalen Zeitalter angepasst und mit äußerster Präzision hergestellt, überlebt sie eine Kamera-Generation nach der anderen.

Sie bräuchte für die nächsten 50 Jahre vielleicht nicht mehr als ein wenig mehr Lichtempfindlichkeit und etwas schnellere interne Verarbeitung, denn die ist leider noch auf dem Stand von 2009. Ich werde dem System treu bleiben, irgendwann vielleicht um die Monochrom erweitern, denn ich bin ziemlich glücklich und zufrieden mit ihr.

Und wieder kommt mir der Gedanke: Eine Kamera, die keinen Autofokus hat, für die es keine Zoomobjektive gibt und die nur eine Automatik hat? Genau das Richtige für mich!


kwerfeldein – Fotografie Magazin | Fotocommunity

 
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kwerfeldein diskutiert: Wie man (k)ein guter Fotograf wird

11 Jan

Liebe Leser, nachdem wir nun unsere erste Diskussion erfolgreich – ich würde schon fast sagen: – überstanden haben, wollen wir gleich ansetzen und die nächste nachschieben. Heute befassen wir uns mit den Mitteln und Wegen, um ein guter Fotograf zu werden – oder auch nicht. Darüber zerbrechen sich wohl seit Existenz der Fotografie Fotografen den Kopf. Und so auch wir.

Martin:
Na, dann wollen wir mal. Es gibt tonnenweise Bücher von und mit Fotografen, die ihre Theorien und Ansichten darüber präsentieren, was eine gute Entwicklung an der Kamera unterstützt. Was findet Ihr dahingehend essentiell?

Sebastian:
Es gibt ja nicht nur die ganzen Bücher. Sondern auch Tonnen von Foren, Webseiten, Blogs und so weiter und so fort, die alle dasselbe Ziel ausgeben: Wir erklären Dir, wie Du ein besserer Fotograf wirst. Ich würde das in drei Ebenen trennen. Einmal die technische Seite in der Theorie, die kann man sicherlich irgendwie aus Texten lernen. Aber eben nur theoretisch.

Dann die technische Seite in der Praxis, die kann man nur lernen, indem man so viel fotografiert wie möglich und zwar nicht nur irgendwelche Testbilder. Und das dritte, was ich eigentlich noch viel wichtiger finde, ist Bildaufbau, Komposition, Motivfindung. Das lernt man nicht aus Büchern, denke ich. Sondern, indem man sich einfach sehr viele Fotografien genau anguckt.

Aileen:
Punkt vier würde ich ergänzen bzw. aus Deinem Punkt drei noch erweitern: Das ist die Findung von Ideen und Konzepten für Fotos. Man muss meiner Meinung nach auch das lernen bzw. sein Gehirn, seine Wahrnehmung, seine unterbewusste Inspirationsmaschine auf die Fotografie einstellen. Das greift sicherlich in das technische und kompositorische Lernen hinein, weil man dann Erfahrungswerte hat, was als Foto gut aussehen wird und was nicht.

Aber noch grundsätzlicher ist das Finden einer Idee an sich, die mit Fotos (gut) umsetz- und transportierbar ist oder nicht. An den Grenzen gibt es dann Übergänge zu Fotomanipulation, Collagen, Mixed Media, Illustration, Malerei, Video, Text und so weiter.

An dem Punkt wird es aber genau genommen auch speziell, denn nicht für jedes Genre der Fotografie braucht man ausgefallene Ideen. Einige haben an dieser Stelle andere besondere Anforderungen wie die Recherche über besondere Orte und Wetterverhältnisse oder Erkundung von Lebensräumen und Gewohnheiten von Pflanzen und Tieren, um nur einige zu nennen.

Andererseits stellt sich dabei die grundlegende Frage: Wenn ich ein guter Fotograf werden will – welches Ziel habe ich? Star-, Berufs-, Hobby- oder künstlerischer Fotograf? Nur für mich, auch für andere oder möchte ich damit Geld verdienen? Je nachdem entstehen andere Schwerpunkte.

Martin:
Dazu kommt auch noch, dass Fremd- und Eigenwahrnehmung selten übereinstimmen, sondern weitklaffend auseinanderliegen. Fotografen großartiger Portfolios finden sich so lala und so mancher Einsteiger sieht sich schon neben Karl Lagerfeld in „Wetten dass…“. Ach ja, ganz oft werden manche Fotografen wie die liebe Vivian Maier erst lange nach ihrem Tod bekannt. Und das ist nur eines von vielen Beispielen.

~

Wir für uns könnten „guter Fotograf“ ja so definieren: Maximum der eigenen Leistungsfähigkeit. Nun stellt sich die Frage: Wie komme ich da hin? Eins haben wir ja schon festgehalten, nämlich die Praxis hinter der Kamera. Ausnahme: Menschen, die sich selbst portraitieren, die sind nämlich auch davor. Doch es gibt noch viele andere Punkte, die hinzukommen, wie die folgende Frage, die generell im Unterbewusstsein viele Einsteiger eher Steine in den Weg wirft, als dass sie behilflich ist:

Denkt Ihr, dass Talent in diesem Kontext eine (große oder kleine) Rolle spielt?

Sebastian:
Ich glaube generell nicht so sonderlich an dieses ominöse Konzept Talent – auch wenn ich bei Fotografen, Musikern oder Künstlern, die ich bewundere, immer mal wieder dieser Idee vom Originalgenie, dem alles in die Wiege gelegt wurde, verfalle und mir vorstelle, wie genial derjenige sein Zeug einfach leichthändig umsetzt. In der Realität ist es wohl endloses Training und Training und Wiederholung.

Anders gesagt: Wenn ein Fotograf einer breiteren Öffentlichkeit das erste Mal auffällt, dann hat der meistens schon X Jahre Lern- und Übungszeit auf dem Buckel, in der er sicherlich auch viel Mist gebaut hat, das darf man nie vergessen, wenn man dann wieder über so ein Portfolio stolpert, bei dem man ein Bild besser als das andere findet.

So etwas wie absolute Naturtalente gibt es wohl in keinem Bereich, Säuglinge kommen ja nicht auf die Welt und fangen direkt instinktiv das Fotografieren an. Was ich aber schon glaube, ist, dass man in die falsche Richtung üben kann. Wer nur die Technik übt, aber nicht den Rest, der wird wohl eher kein guter Fotograf.

Marit:
Ich möchte den „guten Fotografen“ nicht nur so definieren wie Martin es beschreibt, sondern auch: Maximum der eigenen Leidensfähigkeit. Denn die gehört für mich dazu. Ich sehe das eher aus der emotionalen Ecke. Technik ist dann eher zweitrangig, man muss sie lediglich beherrschen. Eine Fotografie muss ja fesseln, den Betrachter anhalten, etwas zu fühlen.

Somit muss ein guter Fotograf auch mit Talent gesegnet sein. Talent definiere ich aber nicht damit, von Geburt an mit einer bestimmten Gabe ausgestattet zu sein, sondern eher über die Jahre dazuzulernen, in welcher Sparte auch immer. Im fotografischen Sinne setze ich da emotionale Intelligenz mit voraus, Situationen also richtig einzuschätzen, im richtigen Moment abzudrücken.

Oder auch Kommunikation mit Menschen, wenn es sich um Portraitfotografen handelt. Ich denke da vor allem gerade an Sally Mann. Der Fotograf ist mehr als die Summe seiner Teile, um mal mit Phrasen um mich zu werfen.

Aileen:
Ich denke, Talent spielt eine enorme Rolle. Ich habe sowohl schon Bilder gesehen, die gefesselt haben, obwohl die Technik nicht beherrscht wurde oder die Bildidee ganz einfach die technischen Möglichkeiten der verwendeten Kamera gesprengt hat und Fotografen, die unfassbar schnell unfassbar geniale Bilder gemacht haben.

Allerdings auch Bilder von Menschen, die schreiben, dass sie z.B. seit zehn Jahren intensiv fotografieren, die Ergebnisse sahen aber eher aus wie erste Versuche. Gut möglich, dass letztere solche sind, die Sebastian damit meint, dass man in die falsche Richtung üben kann, aber ich habe das bisher immer fehlendem Talent zugeschrieben.

Man kann auch hier mal andere Disziplinen als Vergleich betrachten: Kann man es lernen oder üben, gute Romane zu schreiben, Bilder zu malen oder Comics zu zeichnen? Auch da kann man die beschriebenen Phänomene finden und sich überlegen, ob man es Talent, Üben oder Lernen zuschreiben würde.

Martin:
Würdest Du, Aileen, dann sagen, dass Talent allein ausreicht und die Ausführung nur der Herstellung der Fotografie dient?

Aileen:
An der Frage selbst erkennt man ja eigentlich schon, dass Talent allein nicht (immer) ausreicht, denn erst durch die Herstellung der Fotografie kann man das Bild aus dem eigenen Kopf der Welt zugänglich machen. Es mag auch Menschen geben, die sogar das Talent für die Technik haben und sie spielend bedienen, aber ich schätze, dass die meisten nur das Talent für Ideen oder das Talent zum Lernen haben.

Marit:
Was ich noch interessant finde ist, inwieweit das äußere Umfeld mit dem Ausbilden von Fähigkeiten zu tun hat. Oder ganz anders gefragt: Was nimmt unsere Gesellschaft als Talent wahr und fördert diese? Ich sehe oft viele Bilder, da sage ich mir, der oder die könnte diese Bilder ebenfalls präsentieren, würde aber niemals in einer Ausstellung hängen. Ist das Prädikat „Talent“ also eher eine Feststellung von außen als von einem selbst?

Sebastian:
Aileen, kennst Du diese These von dem Psychologen Dr. K. Anders Ericsson, dass man so ungefähr 10.000 Stunden Übung braucht, um auf einem Gebiet wirklich gut zu werden? Ich finde das ziemlich einleuchtend und wenn ich es so denke, dann fällt der Punkt „Talent“ für mich eher raus. Talent ist dann vielleicht eher die Fertigkeit auf anderen Gebieten, die auch dazugehören, Vorstellungskraft zum Beispiel.

Oder Talent ist die Vorliebe, sich mit einer Sache auseinander zu setzen, so dass man auch wirklich mit Leidenschaft übt. Aber dieses von irgendwoher zum Himmel hereingefallene Talent mag ich bezweifeln. Wenn, dann kommt es meiner Meinung nach, wie Marit auch sagt, auf das Umfeld und die entsprechende Förderung an. Wenn Eltern oder Freunde fotografieren, dann entwickle ich möglicherweise eher ein Interesse daran.

Aileen:
Ich meine, von der These schon einmal gehört zu haben. Damit müsste ich mich jetzt tiefergehender beschäftigen. Vielleicht würde es meine bisherige Einschätzung zum Thema Talent ändern – diese ist ja auch nur eine persönliche Theorie ohne Rückhalt durch eine wissenschaftliche Untersuchung.

~

Martin:
Schön, dass hier auch eigene Standpunkte überdacht werden. Gibt es für Euch denn Fotografen, von denen Ihr sagen würdet: „Der hat es geschafft und ist mir ein Vorbild“?

Marit:
Einen Namen habe ich ja schon genannt – Sally Mann. Mit ihrer Arbeit über ihre Familie hat sie es geschafft, sichtbar zu werden, indem sie eine alte Technik verwendet, um die Dichte von Nähe und Vertrauen zu verbildlichen. In einer Gesellschaft, in der es um Zeitersparnis geht und familiäre Kälte leider zum Dasein gehört, war das für mich ein fotografischer Urknall.

Aileen:
In meinem Sichtfeld sind unglaublich viele Vorbilder, ich könnte mich da nicht auf einen oder auch nur wenige Namen festlegen. Auf verschiedenen Plattformen folge ich einer fast unüberschaubaren Anzahl von Fotografen und Künstlern, die meisten von ihnen haben es in meinen Augen geschafft, einen sehr eigenen Stil zu entwickeln, der mich auf die eine oder andere Art fesselt. Immer wieder schade zu sehen ist leider, dass natürlich nur wenige davon es „geschafft“ haben im Sinne eines größeren Durchbruchs.

Martin:
Immer wieder spannend ist für mich auch die Frage des Systems oder Umfeldes, in das die Person hineingeboren wird. Ein Mensch, dessen Vorfahren künstlerischen Interessen folgten, wird viel früher mit diversen Elementen aufwachsen, als andere. Nicht selten wachsen aus Musikerfamilien auch Musiker heran, die einen Durchbruch schaffen. Dazu kommt natürlich auch die Zeit, in der jemand lebt. All das mitzubedenken finde ich signifikant, auch wenn klar ist, dass bisher kein Meister vom Himmel gefallen ist.

Mir wurde erst Jahre nach seinem Tod bekannt, dass mein Vater früher leidenschaftlich fotografiert hat und ich fand Kinderaufnahmen von mir, die mich ins Staunen gebracht haben. Weiter war er in jungen Jahren bis ins Alter Organist, Pianist und hatte eine große Liebe zur Klassik.

Sind Eure Eltern oder Großeltern künstlerisch unterwegs? Könnt Ihr da einen Zusammenhang sehen?

Sebastian:
Meine Eltern haben früher sehr viel fotografiert und sind beide auch in künstlerischen Berufen unterwegs. Mein Vater macht sehr viele handwerkliche Sachen, meine Mutter schreibt beruflich und privat.

Das spricht wohl ein bisschen gegen die vorherige Ansicht, dass es kein Talent gibt, allerdings erkläre ich mir das damit, dass ich halt von früh an irgendwie mit Dingen wie Schreiben und photographieren zu tun hatte. Man wächst da natürlich viel leichter rein, wenn die Tätigkeit schon im eigenen Umfeld etabliert ist, wohl gerade in der Kindheit.

Und irgendwann guckt man sich um, wer sonst so photographiert und findet “Vorbilder” oder eher Bilder, die einen sehr beeindrucken. Was ist spannend finde, ist die Rolle des Internets in dem Zusammenhang. Früher konntest Du Dich eben nur mit Eltern, Freunden vergleichen oder mit Photographen aus Büchern und Zeitschriften, aber die waren irgendwie gefühlt ganz weit weg. Heute ist man auf Plattformen mit sehr, sehr vielen sehr guten Photographen unterwegs. Ist natürlich die Frage, ob das ein Fluch oder Segen ist.

Aileen:
Meine Eltern waren auch beide als Kinder und Jugendliche kreativ, meine Mutter hat gemalt und gezeichnet und mein Vater hat dazu auch noch fotografiert. Die Frage, ob etwas durch Erziehung bzw. Gewöhnung durch Umgang im Alltag oder Vererbung beeinflusst wird, ist eine sehr interessante, ganz allgemeine Frage, die nicht nur in der Kreativität, sondern auch bei so explosiven Themen wie Intelligenz, Gewalt und Geschlecht eine Rolle spielt.

Das führt jetzt eventuell zu weit, aber ich lese gerade ein Buch („Das unbeschriebene Blatt“ von Steven Pinker) dazu, nachdem ich über eine kurze TV-Serie aus Norwegen (hier der erste Teil) gestolpert bin, die die inzwischen weit verbreitete These in Frage stellt, nach der wir alle mit den gleichen Möglichkeiten auf die Welt kommen und vor allem die Erziehung bestimmt, was aus uns wird.

Martin hat ja auch gesagt, dass er von den Fotografien seines Vaters erst spät erfahren hat. Meine Eltern habe ich auch nie selbst bei der kreativen Arbeit erlebt. Jetzt kann man sich auf so etwas zurückziehen wie ein ominöses Mitschwingen von Kreativität im Alltag, aber ein einfacher nachzuvollziehender Mechanismus ist die Vererbung von künstlerischen Tendenzen via der Gene.

Abgesehen davon, dass es einen vielleicht etwas beruhigt, dass man selbst und sein Umfeld weniger Einfluss als gedacht auf die eigene Kreativität haben, ist es für die Praxis als Fotograf aber wohl eher von untergeordneter Wichtigkeit, ob das vorhandene Talent durch Vererbung oder Erziehung entstanden ist. Außer, man wirft deswegen die Flinte ins Korn, weil man denkt, dass dadurch alles bereits vorbestimmt und keine Verbesserung mehr möglich sei – so ist es ja auch nicht.

Martin:
Oder man fällt darauf herein, zu glauben, man selbst hätte das alle ganz alleine geschafft – was ich in so manchem Unterton von denen, die sich gern als Profis profilieren. heraushören kann.

Interessant finde ich in diesem Kontext auch die Frage, ob ein guter Fotograf zwangsweise als ein solcher erkannt werden muss. Es gibt in der Geschichte der Kunst und Musik unzählige Fälle, in denen die Brillanz und das Können eines Kreativen zu Lebzeiten nicht wahrgenommen oder als solche in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Und dann gibt und gab es Menschen, denen die Öffentlichkeitsmeinung völlig egal ist, wie das wohl derzeit bekannteste Beispiel Vivian Maier zeigt.

~

Zu guter Letzt haben wir in unserer Diskussion die Frage nach der Technik interessanterweise ausgespart. Zufall? Welche Rolle messt Ihr der technischen Qualität einer Ausrüstung bei?

Marit:
Ganz ehrlich? Keine besonders große. Der Geist hinter eine Sache ist entscheidend. Ob der Genius mit einer Plattenkamera, dem iPhone oder einer digitalen Spiegelreflexkamera unterwegs ist, hängt dann eben von den jeweiligen Vorlieben oder Möglichkeiten ab.

Aileen:
Oder eben dem Zufall, in welcher Situation und Stimmung jemandem etwas in die Hand gefallen ist. Dann bleibt man vielleicht dabei, obwohl man auch mit anderen Mitteln könnte. Völlig egal, solange man damit funktioniert.

Sebastian:
Die Technikfrage finde ich auch nicht wichtig, aber auch nicht ganz irrelevant. Natürlich kann man mit jeder Kamera richtig gute Bilder machen, aber die Technik zu beherrschen, ist schon wichtig, das ist wie mit den Regeln, die man kennen sollte, damit man sie brechen kann. Selbst wenn man nur mit dem iPhone fotografiert, wie Du bei Deinem letzten Projekt, Martin, dann muss man ja wissen, was man damit anstellen kann und was nicht. Das ist ein Lernprozess, der geht wieder über Übung.

Martin:
Welche Mittel und Wege habt Ihr eigentlich genutzt, um Euch fotografisch weiterzubilden? Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich zu Beginn unzählige Bildbearbeitungsvideos verschlungen, Podcasts gehört und Blogs gelesen habe. Außerdem habe ich fotografiert wie blöd (haha). Wie war das bei Euch?

Marit:
Ich war ganz egoistisch und habe mir einen Freund geangelt, der selbst Filme entwickelt hat. Von dem habe ich so gut wie alles gelernt, was ich heute über’s Entwickeln, Belichten und Komponieren weiß. Im Gedächtnis ist mir da vor allem das dunkle Bad und die Entwicklerdose geblieben, vor der ich einen riesigen Respekt hatte. Ich hatte Angst, etwas falsch zu machen, aber mit der richtigen Hilfestellung und der Möglichkeit, selbst zu hantieren, habe ich sehr viel mitgenommen.

Sebastian:
Bei mir waren das am Anfang ein bisschen meine Eltern, vor allem aber endlos viele Tutorials, Zeitschriften und vor allem auch diese schrecklichen Fotoforen, in die ich heute keinen digitalen Fuß mehr setzen würde. Was technische Sachen angeht, erzählen die Dir alles, was Du über jedes x-beliebige Objektiv wissen kannst.

Auf 300 Seiten Threads mit unzähligen nutzlosen Streitgesprächen dazwischen. Das hilft Dir dann zwar auch nicht weiter, weil Du dann immer noch keine Bilder gemacht hast, aber Du hast wenigstens das Gefühl, etwas gelernt zu haben. Fotografieren wie blöd, wie Martin das sagt, war und ist bei mir auch das Einzige, was wirklich funktioniert hat.

Aileen:
Ich denke, ich habe mich nie aktiv fotografisch weitergebildet. Ich habe einfach Fotos gemacht, Fotos von anderen angeschaut und eigentlich auch immer Fotos überall gezeigt, da bekommt man ja automatisch eine Rückmeldung der Betrachter. Irgendwann habe ich mal ein oder zwei Bücher über Fotografie (also Anleitungen) gekauft, aber die stehen ungelesen im Schrank.

Da hat ein guter Bildband mehr Chancen, angeschaut zu werden. Vielleicht fehlte mir da der Ehrgeiz, die technische Seite sofort vollständig zu beherrschen. Ich wollte eigentlich nur kreativ sein, mich ausdrücken, schöne Bilder machen. Dass ich das am besten machen kann, indem ich es einfach mache, war für mich selbstverständlich.

Martin:
So geht es mir heute auch. Ich kaufe mir zehn Mal lieber einen guten Bildband und denke darüber nach, wie das Bild wohl entstanden ist, anstatt mir zig Erklärungen durchzulesen. Jedoch war ich früher sehr dankbar über Fotografen, die alles bis ins kleinste Detail erklärten, da kam ich mir nicht ganz so doof vor.

~

Diese Fotografen waren für mich im wahrsten Sinne des Wortes „Vorbilder“ und ich habe eine lange Zeit versucht, so zu fotografieren, wie sie bzw. ist die Inspirationsdichte anderer Fotografen auch heute noch sehr hoch bei mir. Kennt Ihr das auch oder habt Ihr schon immer frei Schnauze drauflos fotografiert?

Sebastian:
Ich hatte das auch. Unendlich viele Bildbände geguckt, wirklich viel im Netz gesurft und irgendwann wurde mir dann zumindest klar, welcher Stil mich interessiert oder wirklich reizt. Da sind auch einige ganz konkrete Fotografen dabei, die in diese Richtung gehen, deren Arbeiten ich auch heute noch verfolge.

Ich denke, das gehört aber auch dazu, wenn man langsam einen eigenen Stil entwickeln will: Verstehen, was einem gut gefällt, was man gerne machen will (das können ja durchaus auch unterschiedliche Sachen sein) und dann erst einmal langsam lernen, da hinzukommen, auch durch Vorbilder. Aber natürlich nicht irgendwen kopieren, sondern sich davon ausgehend selbst finden.

Aileen:
Bei mir habe ich eher den umgekehrten Effekt beobachtet, dass meine Bilder den Arbeiten von anderen Fotografen stilistisch viel zu ähnlich sind. Da schlägt bei mir immer wieder der Anspruch durch, etwas Eigenes zu machen. Das war schon kurze Zeit, nachdem ich mit dem Fotografieren angefangen hatte so und ist auch jetzt noch so.

Zwischendurch fotografiere ich dann, habe Ideen oder denke auch mal wieder, dass es mir eigentlich egal ist, solange es mir Spaß macht. Aber diese innere Rebellion hat mich immer wieder vorangebracht, auch wenn ich nicht von heute auf morgen vollkommen eigenständige Arbeiten auf die Beine stelle.

Und wie seht Ihr das?


kwerfeldein – Fotografie Magazin

 
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“Ich zeichne, wovon ich kein Foto machen kann und umgekehrt.” Im Gespräch mit Ekaterina Grigorieva

13 Dec

Ekaterina Grigorieva begeistert mich schon lange mit ihren verträumten, fantasievollen und sehr emotionalen Portraits. Viele ihrer Themen wie Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit von Mensch und Natur erkennt man in ihren Arbeiten ziemlich schnell.

Sie arbeitet in der Natur und im Studio und macht Künstlerportraits ebenso wie klassische Aktfotografie. Außerdem malt und zeichnet sie und setzt damit die Ideen um, die außerhalb ihrer fotografischen Möglichkeiten liegen. Im Gespräch erfahren wir mehr über diese und andere Aspekte ihrer Arbeit.

Hallo Ekaterina. Erst einmal danke, dass Du Dir Zeit für unser Interview genommen hast. Zuerst, erzähl uns doch mal ein bisschen über Dich: Wer bist Du, was machst Du?

Ich bin eine Fotografin und Grafik-Künstlerin und lebe in Moskau, Russland. In meinen Fotografien versuche ich, die menschliche Zerbrechlichkeit, innere Ruhe und Harmonie einzufangen. Denn ich glaube daran, dass der Protest gegen die Eitelkeit, Habgier und den allgemeinen Zeitmangel nicht ausgedrückt werden kann, indem man dem Publikum diese Dinge direkt demonstriert. Sehr wohl aber durch Schönheit.

Wie hat sich diese These als Grundlage Deiner Arbeit entwickelt, welche Erfahrungen hast Du gemacht, die Dich dazu geführt haben?

Ich weiß wirklich nicht, ob es nur eine Begebenheit war, die mich dorthin geleitet hat. Meine Wahrnehmung der Fotografie und wie ich sie benutze, hat sich durch eine Vielzahl von Faktoren geformt: Das Leben, das ich lebe; die Bücher, die ich lese; die Menschen, die ich treffe und vieles mehr.

Für mich ist die Moderne Kunst vollkommen belanglos. Wegen der Tatsache, dass sie exakt die Dinge demonstriert, gegen die sie sich eigentlich richtet. Aber wenn man etwas sieht, das wahrhaft schön ist, kann es irgendwie einen selbst und die eigenen Gedanken positiv beeinflussen.

Ein Einfluss war das Ballettstück “Por Vos Muero” von Nacho Duato. Die reine Schönheit der altertümlichen spanischen Musik des 15. und 16. Jahrhunderts. Diese Poesie und die Bewegungen inspirierten mich dazu, klare, einfühlende Portraits mit Schwarzweiß-Film zu machen.

Du bist nicht nur Fotografin, sondern auch Malerin und Zeichnerin. Was haben diese Ausdrucksweisen für Dich gemeinsam und wo sind sie gegensätzlich? Wann machst Du ein Foto und wann nimmst Du lieber einen Pinsel oder Stift zur Hand?

Der hauptsächliche Unterschied zwischen Kunst und Fotografie ist für mich, dass Fotografien mehr äußeren Einflüssen ausgesetzt sind. Die Stimmung wird durch das Zusammenwirken zweier Menschen kreiert – Fotograf und Modell. Darum erscheint mir Fotografie so viel schwieriger, obwohl man die ersten Resultate damit sehr viel schneller und einfacher erreichen kann.

Meine Aufgabe ist es dann nicht nur, dem Betrachter einen Blick auf die innere Welt des Modells zu ermöglichen, sondern auch, mich selbst nicht zu verlieren. Während ich im Falle von Zeichnungen oder Malereien immer mit mir selbst, meinen Gedanken und dem leeren Blatt Papier allein sein werde. In der Fotografie ist die Liste immer schon mit Informationen gefüllt, von der man die unnötigen Details wieder streichen muss.

Wie ich entscheide, wie ich mich ausdrücke: Ich zeichne, wovon ich kein Foto machen kann und umgekehrt. Es gibt Dinge, die man visuell nur auf dem Papier ausdrücken kann, die zu magisch und zu allegorisch sind. Für diese Dinge gibt es einfach keinen Platz in der Realität.

Aber ich hoffe sehr, dass ich im Laufe der Zeit und meiner weiteren fotografischen Entwicklung meine Fotos so werde gestalten können, dass sie meinen Zeichnungen näher kommen. Im Moment bereite ich ein fotografisches Projekt vor, das viel mehr eine Art Kunst-Fotografie ist als die Portraits, die ich normalerweise fotografiere.

Hast Du schon eine Stimmung oder das komplette Bild im Geiste, bevor Du ein Foto machst? Oder bist Du spontan, wenn Du mit Deinen Modellen arbeitest?

Manchmal planen wir, wie die Fotoserie aussehen könnte. Zum Beispiel, wenn wir gemeinsam mit einer Visagistin oder einem Designer arbeiten, dann denke ich über passendes Licht, einen geeigneten Ort und solche Dinge nach, sodass ich mir die fertigen Fotos beinahe vorstellen kann.

Wenn es ein ruhiges Portraitshooting ist, versuche ich, mich selbst nicht zu begrenzen, spontan zu sein und einfach dem Modell zuzusehen, wie es sich bewegt und irgendetwas tut. Aber ich entwerfe in meinem Kopf immer eine Stimmung, indem ich Musik oder so etwas benutze und dann versuche, sie auf das Modell zu übertragen.

Was inspiriert Dich, lässt Ideen in Dir entstehen?

Inspiration kann von überall herkommen, seien es Fetzen einer Unterhaltung oder ein Spaziergang im Wald. Meiner Meinung nach wird die Inspiration immer in Deinem Inneren sein, wenn Du die Welt interessiert betrachtest, fasziniert von den kleinen Dingen, Du einen guten Schlaf hast und ein volles Leben lebst.

Aber es ist wichtig zu verstehen, dass im Kontrast zur kreativen Arbeit bei Auftragsarbeiten die Inspiration nicht von selbst entspringen kann. Dann muss man lernen, sie in sich selbst zu erschaffen.

Vor einer fotografischen Aufgabe sitze ich oft für eine Weile allein und höre Musik, die ich mit der Szene, die ich einfangen will, assoziieren kann. Ich ziehe die Bilder, die in meinem Kopf dadurch entstehen, heraus und versuche, sie in Einklang mit dem zu bringen, was ich vorhabe.

Assoziationen können auch oft nützlich sein. Umso unerwarteter sie sind, desto besser sind sie. Zum Beispiel setzte ich einmal das Licht und dachte einen Moment lang, dass die Lichtflecken auf dem Hintergrund Papierkranichen sehr ähnlich wären. Ich zeichnete daraufhin eine ganze Serie von Assoziationen, die Auswirkungen auf die Stimmung und den visuellen Endzustand der Fotos hatten.

Gibt es bestimmte Themen in Deinen Arbeiten, die immer wieder auftauchen?

Ja, davon gibt es ein paar. Themen wie die menschliche Verletzbarkeit und die Zerbrechlichkeit der Natur. Und was die visuelle Seite der Fotografie angeht, verwende ich sehr oft Wind in meinen Bildern.

Abgesehen davon, dass es mehr Dynamik und Bewegung hineinbringt, fühlen sich Menschen oft beruhigt, wenn sie diese Fotos ansehen. Und ich denke, dass Gemütsruhe heutzutage etwas sehr Wichtiges ist. Es gibt auch viele Bäume in meinen Fotos und Bildern, ich mag das Grafische an den Zweigen der Bäume.

Ganz schön viel Natur – was ist Deine persönliche Verbindung zu ihr?

Ich denke, das kommt vom Leben in der Großstadt. Dadurch nehme ich die majestätische Schönheit und Stille der Natur sehr viel schärfer wahr. Und mir scheint, dass ich als Fotografin versuche, durch meine Arbeiten zu transportieren, was mir im Leben fehlt und was bestimmte Emotionen hervorruft.

In meiner Kindheit habe ich auch viel Zeit nahe am Wald verbracht und ich erinnere mich an das Flussufer bei Nacht, den Klang der Bäume vor einem Gewitter und das Geraschel der Blätter unter den Füßen beim Laufen. Diese Erinnerungen sind für mich einige der wärmsten.

Was sind Deine künstlerischen Ziele und Träume?

Ich wünsche mir, dass ich ein paar Portraits machen werde, die weltbekannt werden. Und ich hoffe auch, dass mein Projekt über kreative Menschen auch allgemein bekannte, interessante Menschen beinhalten wird, die ich immer schon einmal treffen wollte und auch solche, von denen ich noch nicht gehört habe. Es bedeutet mir sehr viel, Menschen kennenzulernen, Erfahrungen und Inspirationen mit ihnen auszutauschen.

Außerdem habe ich eine neue Kunstserie in Planung, die Kindheitserinnerungen gewidmet sein wird. Vielleicht Fotografien, begleitet von einem Kurzfilm. Ich hoffe, dass die Bilder in meinem Kopf in der nahen Zukunft schon Realität werden.

Na, dann wünsche ich Dir, dass all diese Träume für Dich wahr werden und freue mich schon darauf, von diesen vielversprechenden Ideen eines Tages die ersten Bilder zu sehen.

Vielen Dank für das Interview, Ekaterina!

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Ekaterinas Arbeiten könnt Ihr via Flickr, 500px oder Google+ verfolgen.

Das Interview habe ich mit Ekaterina auf Englisch geführt und anschließend übersetzt.


KWERFELDEIN | Fotografie Magazin

 
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