Ein Beitrag von: Beatrice Treydel
Als Kind und Jugendliche habe ich nie daran gedacht, aus meiner Heimat weg zu gehen. Und vor 24 Jahren – so die Überlieferung meiner Familie – habe ich das wohl so formuliert: „Ich will nicht in den Westen!“ Ich war gerade fünf Jahre alt, als ich das mit voller Überzeugung und als lautstarken Protest skandierte, immer dann, wenn meine Familie die Verwand- und Bekanntschaft im Westen besuchen wollte.
Damals mussten wir, wer hätte es gedacht, wenn wir aus der ehemaligen DDR (dem heutigen Thüringen) kurz nach der Wende in den Westen reisten, über die Grenze. Und was bedeutete damals „Grenze“? Ganz genau: Menschen mit Gewehren! Die fand ich als Kind alles andere als nett und das führte zu meiner Aussage. Für mich symbolisierten die Männer den Westen. Auch, wenn genau die eigentlich aus dem Osten waren. Als Kind kann man da schon einmal durcheinander kommen.
Ich in der Bonner Altstadt im Frühling
Inzwischen habe ich bereits an vielen Orten Deutschlands gewohnt und gearbeitet. So auch in Mannheim, Mainz, Frankfurt, Köln und in dem kleinen, liebenswerten Kaff in Thüringen, aus dem ich ursprünglich stamme. Aber nirgendwo habe ich mich bisher so daheim gefühlt wie in Bonn. Besonders fasziniert mich, dass diese Stadt trotz ihrer Überschaubarkeit so viel Leben, Geschichte und Flair hat. Ich fühle mich wohl hier zwischen den Rheinländern und den Menschen aus aller Welt.
Deshalb entstand auch meine Idee, zu zeigen, was alles in Bonn steckt. „Gesichter Bonns“, das ist mein Portraitprojekt, meine Liebeserklärung an Bonn und die Menschen, die hier leben. Als Fotografin liebe ich zwei Dinge ganz besonders: Portraits zaubern und neue Menschen kennenlernen. Und genau das kann ich mit diesem Projekt verbinden.
Mit meinem Projekt bin ich auf der Suche nach den Menschen, die wie ich eine Liebesgeschichte zur Stadt erzählen wollen. Die sich hier daheim fühlen, egal ob sie schon immer hier gewohnt haben oder wie ich „eingewandert“ sind – ganz unabhängig von Alter oder sozialem Stand.
Mein Ziel ist es, viele verschiedene Menschen zu portraitieren und das Ergebnis in einer Ausstellung – ja, mein Traum wäre sogar ein Bildband – zu zeigen. Bis dahin veröffentliche ich nicht die eigentlichen Projektbilder, sondern Outtakes oder schöne Bilder, die dabei auch noch entstanden sind. Ich möchte ja nicht die ganze Spannung verderben, bevor es zu einer Ausstellung kommt.
Vor über zwei Jahren hatte ich zum ersten Mal die Idee zu diesem Projekt und erst im Frühjahr 2013 habe ich dann wirklich damit begonnen. Mein Projekt hat nichts mit Streetfotografie zu tun. Ich bewundere die ganzen Künstler in diesem Bereich, aber diese Art der Fotografie liegt mir nicht. Denn ich nehme mir sehr gern Zeit für jeden meiner Teilnehmer und lerne ihn oder sie ein bisschen kennen.
Schließlich möchte ich den Menschen so ablichten wie er ist und ihn ganz natürlich einfangen. Für jeden Teilnehmer entstehen zwei Fotos: Eines mit Studiolicht und eines irgendwo in Bonn. Obwohl ich natürliches Licht sehr liebe, habe ich mich dazu entschieden, auch Studio-Portraits zu machen. Unter diesen immer gleichen Bedingungen lenkt einfach nichts vom Menschen ab und die Vielfalt der Gesichter Bonns wird gut unterstrichen.
Beim Studio-Portrait lege ich großen Wert auf die Gesichtszüge des Menschen, beim Outdoorshooting möchte ich den Charakter des Menschen und seine Eigenheiten unterstreichen. Deshalb sucht sich jeder Teilnehmer genau diesen Ort selbst aus. Abgerundet wird das Ganze durch kleine Text zu jedem meiner Gesichter Bonns, in denen die Person und ihre Liebesgeschichte zur Stadt kurz beschrieben sind.
All die Begegnungen dokumentiere ich in meinem Blog, sammle Zitate über Bonn bei Twitter und poste zu jedem Teilnehmer ein Bild bei Facebook. Gerade über die sozialen Medien erreiche ich besonders viele neue Teilnehmer. Menschen, die auch ihre Geschichte zur Stadt beitragen möchten. Geschichten, die man nicht suchen kann, die einen stattdessen selbst finden.
So wie die junge Frau, die in kein Schema passt und diverse Schubladen sprengt. Sie ist über Facebook auf das Projekt aufmerksam geworden und hat mich angeschrieben. Jemanden ohne feste Bleibe bei diesem Projekt dabei zu haben, finde ich sehr wichtig.
Ich hatte mich aber schlicht nicht getraut, jemanden auf der Straße anzusprechen und dann bekam ich elektronische Post von ihr. Sie ist Lebenskünstlerin mit einem großen Herz und ganz viel Kreativität. Und genau das ist es auch, was sie an Bonn liebt. Die Kreativität all der Musiker und Künstler.
Einer dieser kreativen Köpfe ist 1zwo3. Ein Streetartkünstler, dessen Pasteups (Zeichnungen auf Papier, die er an Wände klebt) die ganze Stadt schmücken. In Bonn aufgewachsen und mit den Ausstellungen im Naturkundemuseum König groß geworden, lässt er sich noch heute von den Exponaten inspirieren und Tiere oftmals in seine Werke einfließen.
Ich hatte bisher schon so viele tolle Begegnungen. So auch mit dem Leistungssportler Alhassane Baldé, der 2016 wieder an den Paralympischen Spielen teilnehmen möchte. Er wurde in Conakry (Guinea) als Zwillingskind geboren und ist durch einen Ärztefehler bei der Geburt ab dem 8. Brustwirbel querschnittsgelähmt. Sehr früh kam er dann zu seinem Onkel nach Deutschland, wo er schließlich auch aufgewachsen ist. Mit sechs Jahren entdeckte er auf einer Messe sein Interesse am Rennrollstuhlsport. Und heute ist er Dritter auf der Weltrangliste!
Ab und zu im Leben denkt man „wenn ich das jetzt nicht tue, ärgere ich mich mein ganzes Leben“, schüttelt sich kurz die Zweifel ab und rennt los. So ging es mir im Frühjahr dieses Jahres, als mir plötzlich Bernhard Hoecker beim Einkaufen über den Weg lief. Er ging raus, ich rein. Kurz nachgedacht, schnell hinterher gelaufen und ihn schüchtern angesprochen. Und siehe da: Er ist genauso wie ich ihn mir vorgestellt habe – sehr sympathisch und vollkommen unkompliziert.
Bis zu dem Moment im September, als es dann an meiner Tür klingelte und er sich mit „Hi, hier ist der Bernard“ meldete, hab ich aber nicht so recht daran geglaubt, dass er wirklich Zeit findet. Es war ein sehr schöner und entspannter Vormittag mit ihm und ich freue mich noch immer riesig über seine Aussage „Ich mache mit bei ‚Gesichter Bonns‘, denn Bonn ist mehr als eine Stadt.“
Nach meinen Projektterminen bin ich immer ganz aufgekratzt. Ich freue mich dann immer riesig über die damit verbundenen Erlebnisse. Um all die Anfragen bewältigen zu können, vereinbare ich inzwischen für die Studio-Portraits Sammeltermine. Und genau dabei entstehen wahnsinnig schöne Momente. Menschen, denen ich noch nie begegnet bin und die sich untereinander auch nicht kennen, sitzen zusammen, scherzen, haben Spaß und denken alle nicht daran, meinen Zeitplan einzuhalten.
Aber es stört keinen. Nicht einmal, dass Leute beim Shooting drum herum sitzen. Denn eigentlich hatte ich für jeden ein Zeitfenster eingeplant, bei denen kein anderer Teilnehmer dabei sein sollte. Aber alle blieben und hatten Spaß zusammen.
Ich werde oft gefragt, wie viele Menschen ich fotografieren möchte und wann ich mit meinem Projekt fertig bin. Dann antworte ich: „Sobald ich das bunte Bild der Stadt abgelichtet habe, so wie ich es immer vor mir sehe.“
Es ist wirklich diese Stadt. Es sind die Menschen. Es ist diese Vielfalt, die man in den Straßen sieht. Es ist das Gefühl, dass man angekommen ist. Und nun, fast 24 Jahre später, bin ich in der damaligen Hauptstadt genau dieses Westens gelandet und ich finde es super! Über unsere schöne Stadt Bonn kann ich voller Überzeugung sagen: „Ich will nicht weg aus dem Westen!“
kwerfeldein – Fotografie Magazin
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