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Posts Tagged ‘Bildbände’

Unsere (liebsten) Bildbände

15 Feb

Bildbände. Unser Magazin ist bekannt dafür, dass wir sie lieben. Denn sie erlauben uns eine Erfahrung, die über das Sehen von Bildern am Monitor weit hinausgeht. Und weil wir so begeistert von ihnen sind, haben wir uns etwas für Euch ausgedacht.

Und zwar haben ein paar Redakteure ihre Bildbände bzw. Bücherregale mit Bildbänden fotografiert, damit Ihr Euch mal ein „Bild“ davon machen könnt, was wir so zu Hause stehen haben. Doch damit es auch praktisch wird, haben wir alle drei Fotobücher ausgesucht, die im Moment zu unseren liebsten gehören. Auf geht’s.

Bücherstapel von Marit Beer

Marit Beer, Redaktion

Zunächst einmal sind alle Bücher, die ich hier zeige meine liebsten und ich kann keines vor das andere stellen. Dennoch sollen drei näher benannt werden:

„Liebes-Paare“* von Joe Gantz

Mein allererstes Fotobuch, damals vom Mund abgespart, denn es hat über 70 DM gekostet. Ich war gerade einmal 14 Jahre alt, als ich das Buch in der Hand hielt. Ich war ergriffen davon, wie sehr mich Bilder in ihren Bann ziehen konnten und mir Emotionen zeigten, an denen ich nicht beteiligt war, aber dennoch ganz genau die Wärme und Zuneigung spürte, die Joe Gantz hier festgehalten hatte.

„Immune“* von Floria Sigismondi

Ich entdeckte ihre Arbeiten das erste Mal in einem Musikvideo von meiner damaligen Lieblingsband Sigur Ros. Ihre verwirrenden und bizarren Welten übten eine starke Faszination auf mich aus. Ich hatte das Gefühl, wenn ich ihre Arbeiten betrachtete, dann war die eigene Gedankenwelt ein riesiger Kreativpool mit Farben und Formen, an denen man sich nur bedienen muss, um sie zusammen zu fügen und etwas Neues zu erschaffen. Ihre Bilder waren und sind Hirnexplosionen.

„1,2,3,4,5“* von Sarah Moon

Ihre Arbeiten haben mich gerade im letzten Jahr immer wieder begleitet. Ihre Art und Weise, Stimmungen zu erzeugen, aus dem Unperfekten Schönes zu schaffen. Ihre Sprache glich, ohne arrogant klingen zu wollen, meiner eigenen. Ich bekam das Buch zu meinem letzten Geburtstag und es ist das schönste Geschenk, das mir jemand machen konnte.

 

Bildbände von Katja Kemnitz

Katja Kemnitz, Redaktion und Pressearbeit

„The Moon is for Adults only“ von Laura Makabresku zeigt ganz wunderbare und dunkle Märchenbilder und ist eines meiner Lieblingsbücher. Jedoch nicht nur der schönen Fotos wegen: Das Buch ist auch schön gebunden, der Schutzumschlag lässt sich zu einem Poster aufklappen und zwischen den Bildern stehen kleine, geheimnisvolle Zitate.

Ein Gesamtkunstwerk ist auch das Leporello „Wasser atmen“ von Susann Probst, das ruhige, melancholische Polaroids enthält. Die Bilder wirken durch den Offsetdruck mit partieller Lackierung wie echte Polaroids. Hätte ich nicht zu große Angst, dass die Bilder verblassen könnten, würde ich das Leporello wohl aufgeklappt auf mein Bücherregal stellen, so schön ist es.

Mein drittes momentanes Lieblingsbuch habe ich zu Weihnachten geschenkt bekommen. „If you leave“ steht auf dem Einband, hinter dem sich die Werke verschiedener zeitgenössischer Fotografen verstecken, deren Stil sehr ähnlich ist. Aber es ist genau die Bilderart, die ich so liebe. Das Buch gehört zu einer Serie, von der ich nur Band 4 besitze. Die anderen drei werden auf jeden Fall folgen.

 

Bildbände von Aileen Wessely

Aileen Wessely, Redaktion und Lektorat

„Lewis Carroll, Photographer“* von Roger Taylor, Edward Wakeling

Charles Lutwidge Dodgson – besser bekannt als „Lewis Carroll“, Autor von „Alice im Wunderland“ – fasziniert mich schon lange. Vielleicht, weil er wie ich Mathematiker, Künstler und Träumer war. Dieses große, schwere Buch zeigt nicht nur seine wunderbaren fotografischen Arbeiten, sondern trägt auch einen Teil dazu bei, mit dem Mythos aufzuräumen, der nach Dodgesons Tod von seinen Nachfahren aufgebaut wurde.

„Ashes and snow“* von Gregory Colbert

Tiere, Menschen, Natur gehören zusammen, passen genau ineinander, sind ein Ganzes. So sieht es in den Arbeiten von Gregory Colbert aus, auch wenn dieses Bild sicher etwas romantisch verklärt ist, aber genau das trifft einen Nerv bei mir. Die Fotos sind klar und gleichzeitig surreal. Warm und erdfarben, trotzdem mit einem Hauch von Blau. Siehe auch mein Blickfang zum Buch.

„Karl Blossfeldt. The Complete Published Work“* von Hans Christian Adam

Katja ist mir mit ihrem Blickfang zu genau diesem Buch ein wenig zuvor gekommen. Blossfeldts Arbeiten haben mich schon in ihren Bann gezogen, bevor ich mich überhaupt ernsthaft mit der Fotografie beschäftigt habe. Ähnlich wie Colbert sprechen die Bilder einen Teil in mir an, der zurück zur Natur will und sich in dekorativen, floralen Zeichnungen auszudrücken pflegt, wofür Blossfeldts seine Fotos ursprünglich ja sogar angefertigt hat.

 

Bildbände von Robert Herrmann

Robert Herrmann, Redaktion

„Hiroshi Sugimoto“*

„Ars sine scientia nihil est (Kunst ohne Wissenschaft ist bedeutungslos)“, so die Worte des mittelalterlichen Baumeisters Jean Mignot. Hiroshi Sugimoto, zugleich Künstler, Architekt und Erfinder, ist für mich ein großes Vorbild. Durch seine Wahrnehmung von Licht, Raum und Form sowie seine konzeptuelle Stärke vermag er mich immer wieder zu überwältigen. Seine fotografischen Arbeiten sind nie Selbstzweck, sondern verleihen seinen starken Ideen einen einzigartigen Ausdruck.

„American Prospects“* von Joel Sternfeld

Joel Sternfeld ist neben Stephen Shore einer der Pioniere der künstlerischen Farbfotografie. Sein Buch „American Prospects“ erschien erstmals 1987 und vereint seine von Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre aufgenommenen großformatigen Werke, die irgendwo an der Schnittstelle zwischen Landschafts- und städtischer Straßenfotografie stehen. Sternfelds Arbeiten inspirieren mich, da sie einerseits den ihm eigenen schrägen Bildwitz tragen und nicht zuletzt ein phänomenal absurdes Bild der amerikanischen Gesellschaft jener Zeit zeichnen.

„Torre David. Informal Vertical Communities“* herausgegeben von Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner, Fotografien von Iwan Baan

Kein reines Fotobuch, aber ein Buch mit sehr guten Fotos. Es handelt sich hierbei um ein wissenschaftliches Forschungs- und Entwurfsprojekt, initiiert vom Lehrstuhl für Architektur und Stadtplanung der ETH Zürich, das sich der Untersuchung des weltweit wohl bekanntesten besetzten Hauses widmet – dem Torre David in Caracas, Venezuela. Untermalt werden die Studien von Fotografien des niederländischen Fotografen Iwan Baan. Seine Bilder inspirieren mich, da sie oft mit dem nüchternen Stil menschenleerer, zwanghaft symmetrischer Architekturaufnahmen brechen und er ihnen Elemente aus Reportage- und Straßenfotografie beimischt.

 

Bücherregal von Martin Gommel

Martin Gommel, Herausgeber und Chefredakteur

„Subway“* von Bruce Davidson

Über dieses Buch hatte ich schon viel gehört, doch als ich es auspackte, hing mir der Kiefer drei Meter tiefer. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Denn die Aufnahmen von Bruce Davidson, der sonst monochrom arbeitete, waren direkt, mit Stil und aus den 80ern. Der Magnum-Fotograf dokumentierte Menschen in der U-Bahn und meist mit Blitz. Wenn ich heute nach „stylischen“ Street-Fotos gefragte werde, ist dieser Band meine erste Empfehlung.

„Helen Levitt“* von Walker Evans, Helen Levitt

Das genannte Buch ist erst seit Dezember in meinem Besitz, doch als ich kürzlich gefragt wurde, was 2013 mein liebster Fotoband war, nannte ich Helen Levitt. Als Pionierin der Straßenfotografie war sie in New York City unterwegs und der Band präsentiert großartige Aufnahmen aus geschlagenen sieben Jahrzehnten. Davon sind einige Farbfotografien, die mich besonders ansprechen.

„The Last Resort“* von Martin Parr

Mittlerweile werden wohl die meisten Leser wissen, dass Martin Parr mein Lieblingsfotograf ist, von dem ich viele (aber nicht alle) Fotobände habe. Und eines kann ich sagen: Wenn jemand die Arbeit von Martin Parr kennenlernen will, dann ist „The Last Resort“ das Buch. Darin zeigt er ungeschönt das Strandleben der britischen Arbeiterklasse der 80er Jahre, das bis heute noch Kontroversen auslöst. Nicht zufällig wurde es 2008 vom Guardian als eines der „1000 Artworks To See Before You Die“ eingestuft.

 

Wir hoffen, dass Euch unsere Vorstellung Lust auf Bildbände gemacht hat. Denn wer einmal auf den Geschmack gekommen ist, will sie nicht mehr missen. Ach ja, falls Ihr Lust habt, dürft Ihr gern auch Euren Fotobücherschrank fotografieren und hier den Link zum Bild in einem Kommentar posten. Und wenn Ihr dann noch drei Favoriten dazuschreibt, macht Ihr uns und auch die anderen Leser glücklich.

* Dies ist ein Affiliate-Link zu Amazon. Wenn Ihr darüber etwas bestellt, erhalten wir eine kleine Provision, Ihr zahlt aber keinen Cent mehr.


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Fantastische Bildbände zur Straßenfotografie, Teil 3

05 Jul

Liebe Leser und Mitverfolger der Serie, meine Leidenschaft für Bildbände hat in den letzten Wochen und Monaten kein bisschen abgenommen. Ich würde soger eher sagen, dass ich mitten im Fotoband-Fieber bin. Es gibt derzeit (bis aufs Fotografieren) wenig, was mir so viel Spaß macht wie mich durch Bildbände inspirieren zu lassen.

Anders gesagt: Wenn ich die Bilder anfasse und mich in die Fotografen hineinversetze, bekomme ich regelrecht Hummeln im Arsch und will sofort wieder raus. Und damit Ihr auch teilhabt an meiner Freude, präsentiere ich heute den dritten Teil der Serie, die mit Sicherheit noch viele weitere haben wird.

Joel Meyerowitz, 55*
128 Seiten | 14,8 x 13,6 x 1,2 cm | (derzeit) ab 19,87 €

Joel Meyerowitz, 55 © Joel Meyerowitz

Als Martin Wolf im April letzten Jahres das Leica-Portrait über Joel Meyerowitz bloggte, wurde ich an diesen Fotografen erinnert, den ich bis dato noch nicht näher studiert hatte. So kaufte ich mir das erstbeste Buch und wollte nicht gleich superviel Geld investieren. Zu Beginn jedoch ein paar Worte zum Herrn der Wahl:

Geboren 1938 in New York City, arbeitete Joel Meyerowitz zunächst als Art Director, gab aber seinen Job auf, um ab 1962 intensiv zu fotografieren. Ausstellungen folgten, er fotografierte auch in Europa. In den Siebzigern interessierte er sich zunehmend weg von der Straße hin zur Architektur und zum Offenen hin. Für die frühe Farbfotografie ist Meyerowitz für die damalige Zeit ein wichtiger Advokat.

Meyerowitz fotografierte unsichtbare Beziehungen sich völlig fremder, auf der Straße begegnender Menschen. Die Ausnahme sind Einzelpersonen, denn diese nahm er meist in Korrelation mit anderen auf und versuchte, die Fotografie von der „Ästhetik des entscheidenden Momentes“ zu lösen. Er öffnete sich dem Komplexen, Unfertigen und Nicht-Gelösten in seinen Straßenfotos – aber auch der Klar- und Offenheit in seinen Architektur- und Naturaufnahmen.

Warum heißt der Band „55“? Nun, 55 ist eine Serie, mit der der Verlag Phaidon historisch bedeutende Fotografen vorstellt und einen chronologischen Ablauf über ihre jeweils 55 wichtigsten Werke zeigt. Preislich niedrig und vom Druck her eher klein gehalten, ist dies der große Fotoband des kleinen Mannes und schmalen Geldbeutels.

Joel Meyerowitz, 55 © Joel Meyerowitz

Mich überraschte beim Betrachten des Buches die Diversität der Arbeiten, so dass ich des Öfteren ins Stocken geriet und mich fragte, ob diese Fotos wirklich ein und derselbe Fotograf gemacht hatte. Dies liegt sicherlich an der Vielseitigkeit Meyerowitz’ – bemühte er sich doch um die Fotografie mit unterschiedlichsten Werkzeugen. Von 35 Millimetern auf der Straße bishin zum Großformat in der Landschaft.

Auf mich wirken die Aufnahmen des „ganz Großen“ wohl bedacht und präzise durchkomponiert. Natürlich öffnete er sich auf der Straße dem Zufall, den Aufnahmen geht aber keineswegs die Aufmerksamkeit und Empathie ab, die vonnöten ist, um Menschen im urbanen, willkürlich zusammengewürfelten Kollektiv zu fotografieren.

Jedes der 55 Bilder wird von Meyerowitz ausführlich erklärt. Dabei handelt es sich nicht um technische Details, sondern die Gedanken und Ideen, die ihm damals durch den Kopf gingen. Beim Lesen wurde mir schnell klar, wie reflektiert dieser Mann eigentlich ist.

Viele Straßenaufnahmen entbehren kein bisschen der Situationskomik, die ein jeder nur zu gut aus dem nicht gestellten Alltag in der Stadt kennt. Gerade bei diesen Fotos ertappe ich mich immer dabei, nicht vordergründige, aber bildentscheidende Details zu finden. „Aha-Momente“, die für mich die Fotografie so spannend machen.

Meyerowitz’ Landschaftsfotografie bewegt sich fern vom Kitsch, er braucht keine Übertreibungen, aber eine beeindruckende Weite in seinen Bilden ist nicht von der Hand zu weisen, die nicht nur zum Staunen, sondern auch zum Nachdenken anregt. 55 ist für all diejenigen, die Meyerowitz kennenlernen wollen, meiner Meinung nach ein sehr guter Einstieg.

 

Martin Parr, 100 photos de Martin Parr pour la liberté de la presse*
144 Seiten | 25,8 x 19,8 x 1,4 cm | 9,99 € 

Martin Parr, 100 photos de Martin Parr pour la liberté de la presse © Martin Parr

Derzeit beschäftige ich mich in meiner Freizeit mit keinem anderen Fotografen so sehr wie mit Martin Parr. Ich habe mich noch nie so intensiv mit dem Wirken und den Werken eines Fotografen so lange und tiefgründig auseinandergesetzt. Und dabei bin ich gefühlt erst am Anfang, diesem Mann auf die Schliche zu kommen.

Der erste Bildband, den ich von Martin Parr in den Händen hielt, war diese Ausgabe der französischen Sektion der Reporter ohne Grenzen. Als ich sie mir vor längerer Zeit unwissend nach Hause bestellte, geschah dies mehr aus Neugier, denn aus Überzeugung. Die Fotos, die ich von diesem Mann bis dato gesehen hatte, hatten mich irritiert und so mein Interesse geweckt.

Jedoch lag der Band erst einmal ein paar Wochen zu Hause herum – und als er in die Hände von Besuchern kam, meinten diese, das das aber keine schönen Fotos seien. Und sie behielten Recht. Martin Parr will keine „schönen“ Fotos machen. Diese Bemühung liegt ihm fern.

Parr, geboren in Großbritannien und Sohn eines eifrigen Vogelbeobachters, kam über den Großvater im Alter von 14 Jahren mit der Fotografie in Berührung und wusste sofort, dass er Fotograf werden wollte. Seine ersten Fotos waren noch monochrom, doch als die Farbfotografie von den Staaten auch nach Europa herüberschwappte und er sie für sich entdeckt hatte, gab es kein Zurück mehr – und seine Fotos wurden zunehmend kritischer.

Martin Parr fotografierte Menschen und gab sich nicht mit dem Status Quo zufrieden, „tolle Fotos von exotischen Dingen“ zu machen. Ihm war die Fotografie viel zu rückwärtsgewandt, beschönigend und – wie er oft sagt – nostalgisch. 1994 beworb er sich bei Magnum und wurde genommen.

Jedoch verlief der Prozess nicht reibungslos. Viele Fotografen waren gegen ihn, unter anderem Mitbegründer Henri Cartier-Bresson. Letztendlich wurde er nach sechs Jahren mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit aufgenommen und das öffnete ihm Tür und Tor in die Welt, die er bis heute aus gesellschaftskritischer Perspektive beobachtet.

Martin Parr, 100 photos de Martin Parr pour la liberté de la presse © Martin Parr

Und eines seiner Hauptthemen neben Food, Mittelstand und den Reichen der Welt ist der Tourismus. „Großbritanniens einflussreichster Fotograf“ (Wirtschaftswoche) fotografiert auf diesem Gebiet vor allem, um die Diskrepanz zwischen dem, was der Tourist von seinem Ort erwartet und dem, was er dann vorfindet, herauszuarbeiten. Es ist einer der größten Industriekomplexe, die es auf der Erde gibt und Parr legt den Finger tief in diese Wunde.

Und der Fokus des hier vorgestellten Bildbandes liegt genau dort: Der Tourismus – oder besser gesagt: Touristen. Die Fotos sind unangenehm, denn sie präsentieren ungeschönt die Schattenseite dieser modernen Form der Pilgerschaft. Verstärkt wird der Effekt durch die so unverwechselbare Technik, die er benutzt. Martin Parr blitzt Menschen meistens an. Jedoch nicht in der unbarmherzig direkten Form wie etwa ein Bruce Gilden, einer der meistgehassten Straßenfotografen, es tut.

Martin Parr blitzt viel dezenter und durch die Verwendung von Farbe rückt diese sehr in den Vordergrund und verstärkt den Eindruck des Aufgeblasenen, Überdrüssigen und Übertriebenen. Parr sieht sich – und der Rahmen des Bandes unterstreicht das – als Dokumentarfotograf. Er dokumentiert – oder mit seinen eigenen Worten: sammelt – was da ist. Und zeigt Extreme. Das kann er gut und das ist es, was die Fotos von Martin Parr unverwechselbar machen.

Der Bildband zeigt mit 100 Fotos einen sehr guten Überblick über das, was Parr über die Jahre dokumentiert hat. Doch sind auch Fotos dabei, die bis dato nicht veröffentlicht wurden, der Zahl nach ganze 20. Anstatt diese wie Meyerowitz zu erklären, sind die Fotos nur mit Jahresangabe und Aufnahmeort versehen.

Übrigens: Auf Flickr gibt es eine Gruppe, die Martin Parr WE ? U heißt und ihm gewidmet ist.

 

Harald Kirschner, Patina*
111 Seiten | 24,4 x 17,4 x 1,4 cm | 14,95 € 

Harald Kirschner, Patina © Harald Kirschner

Das Titelbild mit dem alten Pontiac Silverstreak und den alten Fassaden hatte mich gepackt und zum Kauf des Bandes überredet. Ich konnte nicht anders, denn ich war neugierig geworden, wie denn Halle in einer Zeit, in der ich meine Kinderjahre in der Nähe von Baden-Baden erlebte, so ausgesehen hatte.

Also bestellte ich den Band und ein paar Tage später übergab mir der Postbote den im April dieses Jahres beim Mitteldeutschen Verlag erschienenen Band. Dieser bewirbt ihn so: „Halle in der Endzeit der DDR – keine Diva in Grau, sondern eine Diva in Farbe …“

Der Fotograf selbst ist aus derselben Generation wie mein Vater, 1944 in der Tschechischen Republik geboren. Die Sechziger und Siebziger nutzt er zur Fotografenausbilung in Mecklenburg-Vorpommern und anschließendem Studium in Leipzig. Später beginnt er, als freischaffender Fotograf zu arbeiten.

Das Buch war ursprünglich im Auftrag des Brockhaus-Verlages im Rahmen mehrerer Bände über Städte geplant, wobei nach der Wende der Auftrag platzte. Neu aufgenommen vom Mitteldeutschen Verlag wurden sie publiziert mit der Absicht, Kennern und Nicht-Kennern eine Retrospektive auf das vergangene Halle zu geben.

Kirschner fotografierte zu diesem Zeitpunkt erstmals in Farbe und zeigt einen nostalgischen Blick auf Architektur und Stadtlandschaft. In diesem Sinne sind seine Fotos alles andere als typische Straßenfotografie, wobei diese mit ihren weitläufigen Armen auch das nüchterne Genre Kirschners umfasst.

Der zeigt das eigentlich Zentrale in der Straßenfotografie – den Menschen – nicht isoliert, sondern nimmt ihn stets eingerahmt mit in die urbane Architektur. Da die Fotos jedoch nicht knallig bunt und frech aus der Menge fotografiert werden, wirkt der Mensch allein, verlassen und vergessen. Beinahe ignoriert.

Harald Kirschner, Patina © Harald Kirschner

Da Kirschner meist aus der Distanz großflächiche Ansichten der Stadtlandschaft zeigt und dabei sehr geradlinig abbildet, verstärkt sich der Eindruck des Abstandnehmens und vielleicht auch des Abschiedes. Denn die Stadt steht kurz vor dem Umbruch und ist vielleicht schon ein wenig gebrochen. Darin schön anzusehen. Eine Diva eben.

Es ist gut, dass Harald Kirschner diese Fotos nicht schwarzweiß aufgenommen hat, denn die schwache Farbigkeit verleiht den Bildern den zusätzlichen Eindruck der Verlorenheit, des Endes. Die Fotos bellen nicht. Sie laden ein, sich in sie zu versenken. In alte Gemäuer, abbröckelnden Putz, nicht renoviert.

Patina ist überall, in jedem Bild, es ist der Mantel, der alles und beinahe auch die Menschen bedeckt. Neubau sowie prominente Sehenswürdigkeiten ignoriert Kirschner gekonnt. Als jemand, der Halle nur vom Hörensagen kennt, vermisse ich diese jedoch nicht ansatzweise.

Ich genieße es sehr, mit dem Durchblättern eine kleine Reise durch die Stadt zu machen. Ich stehe noch einmal dort, wo Kirschner fotografiert hat und denke nach, wie und warum er diese Aufnahmen so nicht beschönigend gemacht hat. Halle schläft und ich schaue es dabei gern an.

Einmal jedoch wacht Halle kurz auf, nämlich auf Seite 63. Hier zeigt der Fotograf ein Bild, das schon fast einer optischen Täuschung gleicht. Doch dieses Bild sollen nur diejenigen sehen, die den Band auch kaufen.

 

Mark Cohen, Grim Street*
144 Seiten | 30,7 x 24,1 x 1,8 cm | (derzeit) ab 12,03 €

Mark Cohen, Grim Street © Mark Cohen

Kurz vor Weihnachten 2012 hatte ich zugegriffen. Aus welchem Grund auch immer war ich Mark Cohen zugetan und mochte seine Bilder sofort. Dabei war ich mir der Kritikwürdigkeit selbiger natürlich bewusst.

Doch beginnen wir wie immer ganz von vorn, beim Fotografen selbst: Mark Cohen lebt und fotografierte die längste Zeit seines Lebens in Wilkes-Barre, einer Kleinstadt in den Bergen Pennsylvanias. Dort wurde er auch 1943 geboren und begann im Alter von 15 Jahren zu fotografieren.

Erste Vorbilder waren Cartier-Bresson, Robert Frank und Garry Winogrand. Cohens Stil entwickelte sich jedoch bewusst außerhalb des gängigen Rahmens fotografischer Herangehensweisen. Dieser wird als vulgär und kontrovers angesehen und er bricht darin mit allen gängigen Regeln der Portraitfotografie. Das ist es auch, was seine Bilder so spannend macht und ihm internationale Anerkennung verschafft hat.

Der Bildband selbst beginnt mit einem ausführlichen Interview, das zwischen Cohen und Anne Wilkes Tucker stattfindet. Aus dem Interview erschließt sich auch, warum und wie Cohen seinen Stil fand und was er damit erreichen möchte.

Dann folgen die Bilder zu „Grim Street“. Chronologisch sortiert und enstanden von 1967 bis 1990 ist ihnen nur die Jahreszahl und eine knappe Beschreibung des Bildmotives angehängt. Die Fotos sind groß genug, um direkt zu sprechen. Und das tun sie.

„Wenn Du die Straße riechen kannst, dann ist es ein gutes Straßenfoto“, sagte einmal Bruce Gilden. Und das trifft auf jedes einzelne Foto Cohens zu. Das hängt damit zusammen, dass es Cohen überhaupt nicht darum ging, perfekt auskomponierte Aufnahmen aus der Distanz zu machen. Nein, Cohen hatte einen Riecher für die besonderen Momente. Er sah ein Detail und eine Nanosekunde später entstand das Foto.

„Wenn Deine Bilder nicht gut genug sind, warst Du nicht nah genug dran“, stammt, um noch einen großen Fotografen zu zitieren, von Robert Capa. Und ich möchte behaupten: Im Blick auf das Gesamtwerk „Grim Street“ war Cohen näher dran als der größte Teil aller Straßenfotografen. Nah dran zu sein war elementarstes Konzept, wenngleich seine Kritiker behaupten, er wäre schon zu nah dran gewesen.

Mark Cohen, Grim Street © Mark Cohen

Fotografiert hat er mit einem Weitwinkelobjektiv, das eine große Schärfentiefe zuließ und für etwa die Hälfte der gezeigten Fotos benutze er einen Blitz. Da Cohen gern in der Dämmerung fotografierte, hebt das grelle Licht die fotografierten Personen wunderbar hervor und lässt den urbanen Hintergrund Hintergrund sein.

Technik interessierte Cohen freilich nicht, er fotografierte sehr spontan. Vorfokussiert, abgedrückt aus der Hüfte und ohne durch den Sucher zu schauen. Cohen bezeichnet seine Art zu fotografieren als „invasiv“ und er gehörte zu den ersten Straßenfotografen, die dermaßen nah mit zusätzlichem Licht an Menschen herangingen.

Dabei war es ihm gleich, ob die Komposition schön oder gerade war. Abgeschnittene Arme, Köpfe und Füße gehören für ihn dazu, als ob es das Normalste auf der Welt wäre. Nur dem verwöhnten Auge fällt dies zunächst negativ auf, jedoch gewöhnt man sich sehr rasch daran – wenn man sich auf Cohens Bilder einlassen kann.

Er fotografiert so eng an den Personen, dass ich als Betrachter eine Weile brauche, um überhaupt so nah an Menschen heranzuwollen, da Cohen mich – ohne zu fragen – mitreißt. Die Fotos sind innerhalb der Komfortzone der Menschen enstanden und damit außerhalb meiner. Wenn ich mich jedoch dafür öffne, spüre ich das Leben. Es entsteht eine Art Intimität zu den fotografierten Menschen, die mir immer wieder neu ist.

Mark Cohen macht keine einfachen Bilder. Das wollte er nie und betont dies in Interviews immer wieder. Doch seine schweren, explosiven Fotos haben Charme. Einen Charme, den nicht jeder mag und den nicht jeder mögen muss.

 

Nun habt Ihr wieder ein wenig Lesefutter für die nächsten Wochen und ich hoffe, dass Euch das eine oder andere Buch angemacht hat. Ich finde sie alle toll. Falls Ihr noch nicht genug habt und die anderen beiden Teile noch nicht kennt: Teil 1 und Teil 2. So. Und ich linse derweil schon auf die nächsten Bände, die ich vorstellen werde.

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Fantastische Bildbände zur Straßenfotografie, Teil 2

30 May

Ein Beitrag von: Roman Tripler

Ich war überrascht, als Martin mich bat, ein paar Zeilen zu Büchern meiner kleinen Sammlung zu schreiben. Das mache ich, denn ich rede leidenschaftlich gern über Fotografie und ebenso über Bücher.?? Fotobücher waren und sind für mich ein wesentlicher Bestandteil meiner persönlichen Entwicklung. Ich recherchiere und lerne an ihnen, weil editierte und sequenzierte Arbeiten von bedeutenden Personen der fotografischen Geschichte mir stumme Lehrmeister sind.

Einen Vorteil sehe ich darin (in unserer kurzweiligen Zeit, in der es für Fotografen zunehmend schwerer wird, bei bedeutenden Verlagen ein Buch zu bekommen), dass Bücher Resultate langer Reflexionen sowie intensiver Arbeit sind und dass diese eigenständige Qualität auf Papier zu sehen ist.

So muss ich (eigentlich) nicht auf die Suche gehen, ob das, was ich mir anschaue, wirklich etwas leistet, so kann ich einer Entdeckungsreise freien Lauf lassen. Soll nicht bedeuten, dass ich unkritisch jedem Buch gegenüber stehe, jedoch hilft ein wenig Leichtfertigkeit, viele unterschiedliche Charakteristika der Fotografie zu erforschen.

Es gibt immer und überall Einzelbilder, die beim ersten Anblick wahrlich fesseln, die so bindend sind, als ob neben ihnen nichts existieren könne. Ich denke da zum Beispiel an Kevin Carters Bild eines sterbenden Mädchens im Sudan, das als Mahl in spe geduldig von einem Geier bewacht wird.

Solch eine inhaltliche Stärke, solch eine Präsenz haben bei Weitem nicht alle Bilder, auch nicht in den besten Büchern. Jedoch entwickeln viele Bilder in Büchern eine weit tiefergehende Qualität als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Diese Bilder geben meist Zeugnis von der Beobachtungsgabe und der Sensibilität der jeweiligen Fotografen und zeigen mir im Umkehrschluss, auf was ich in der Gesamtheit eines Projektes zu achten habe.

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Miroslav Tichý, Miroslav Tichý*

Miroslav Tichý

Seit meiner späteren Jugend habe ich einen guten Freund namens Jürgen, ein passionierter, geschichtsfester Sammler von Kunst und Literatur, der stets den Blick auf Sonderbares gerichtet hat. Seine Spielwiese ist nicht die Fotografie, aber unser Austausch war und ist immer noch sehr rege, hitzig diskutieren und streiten wir, meist ist es inspirativ.

Er erzählte mir vor etwa zehn Jahren von einem Fotografen, der eigentlich Maler sein wolle. Er lebe wohl in einem kleinen tschechischen Dorf, sähe aus wie das Paradebeispiel des Vagabunden aus gruseligen Kindergeschichten und habe sich aus Brillengläsern, Klorollen, Kronkorken, Klebeband und allerlei anderem Müll funktionierende Kameras zusammengebaut.

Damit sei er durch sein Dorf gezogen, habe Frauen in allen erdenklichen Posen abgelichtet, sei oft mit der Polizei aneinander geraten und habe sogar eingesessen. Seine Fotografien würde er auf selbstgebaute Papp-Rahmen kleben und sowohl die Rahmen als auch die Bilder bemalen.

Man habe ihn erst kürzlich entdeckt und dabei ein Meisterwerk gefunden. Er hieß irgendwas mit „Tisch“, soviel hatte ich mir gemerkt. Ich fand das damals spannend und forschte nach, fand den richtigen Namen, Miroslav Tichý, viel mehr jedoch nicht, denn viele Informationen gab es damals nicht.

Erst Jahre später stolperte ich wieder über Tichý, als Worldstar erschien. Eine umfassende Situationsbeschreibung seiner Person und seines Schaffens, die er so offenbar nicht wirklich wollte. Einen interessanten Bericht und mehr Hintergrundinfos findet Ihr hier.

Nun konnte man auch viele Bilder im Internet finden. Ab der ersten Fotografie, die ich von ihm sah, war ich begeistert. Wie Martin Walser es süffisant in „Ein fliehendes Pferd“ in Worte fasste, so treffend fotografierte Tichý „seine“ Frauen: Ein Blick von der Seite, ein kurzes Aufschauen, die Gunst unbeobachtet, unbemerkt zu voyeurieren.

Stets lang genug schauen zu dürfen, um sich alles ausreichend einzuprägen. Kennt das jemand? Männer wohl eher als ihre Frauen, mag ich wetten. Sehnsüchte, Romantik und Erotik in grauem Alltag zu entdecken, um dann den eigenen, verschüchterten Blick mit aufs Papier zu transportieren, das finde ich schlicht gesagt genial: Tichý.

Miroslav Tichý

Das Buch Miroslav Tichý* habe ich für einen Spottpreis erst 2012 aus der Ausverkaufslage der Art Cologne bekommen. Heute zahlt man etwa 60 – 70 €, Tendenz vermutlich steigend, was ich für ein gutes Buch der Firma Steidl immer noch nicht zu viel finde. Ich möchte gar nicht so sehr auf die Beschaffenheit eingehen, nicht das Layout erörtern.

How to make a book with Steidl ist der passende Film, um Steidls Passion zu erkennen und zu spüren, dass in jedem Buch auch dessen Geist zu finden ist.

Der Herausgeber zeigt auf über 320 Seiten neben etlichen Seiten informativem Text, den man nicht unreflektiert „fressen“ sollte, nicht nur viele von Miroslav Tichýs Fotografien, sondern auch Zeichnungen und einige Bilder von ihm selbst.

Alles in gewohnt brillianter Abbildungsqualität. Zudem riecht das Buch wie ein Buch riechen muss: Nach Papier und Druck – und fühlt sich toll an. Eigenschaften, die mir persönlich viel geben. Vergebt mir meine Zurückhaltung in den Details: Ich möchte nicht verraten, ob der Gärtner der Mörder ist, sondern die Neugier auf die Geschichte wecken – diese Reise solltet Ihr selbst antreten und Tichý ist diese Reise wert.

Dieses Buch hat mich gelehrt, meine persönliche Sicht, mein persönliches Empfinden mit in meine Fotografie einfließen zu lassen, denn an persönlicher Note fehlt es ach so vielen Bildern. Tichýs Bilder sind alles andere als perfekte Fotografien, jedoch stets erkennbar seine und allein mit dem Gedanken, dass er die frühe Trennung von seiner Jugendliebe womöglich nie richtig verkraftet haben mag, les- und verstehbar.

~

Friedrich Seidenstücker, Von Nilpferden und anderen Menschen*

Friedrich Seidenstücker, Von Nilpferden und anderen Menschen

Nicht weniger eindrucksvoll empfinde ich die Arbeiten von Friedrich Seidenstücker. Da verweisen doch alle auf den unglaublichen Humor des Magnum-Fotografen Elliott Erwitt, doch gab es da diesen Berliner Kautz, der bereits in den 1920er Jahren einen Spaß an den Tag legte, der bis heute nichts an Wirkung und Spritzigkeit verloren hat.

Schon am Titel des Buches – „Von Nilpferden und anderen Menschen“ – wird schnell klar, dass Seidenstücker frischen Wind in die damalige fotografische Szene brachte. Eine kleine Anekdote möchte ich gern erzählen, die zeigt, wie zeitlos Seidenstückers Bilder eigentlich sind:

Ich war mit meinem damals 9-Jährigen auf der Vernissage von Renate Grubers „Thank you, Darling“, die „Schätzchen“ aus der lange verkannten Sammlung ihres verstorbenen Mannes zeigte und zum Verkauf anbot.

Zwei offenbar gut betuchte, ältere Herrschaften sinnierten über ein Bild und mein Sohn, frech wie er ist, sagte: „Das ist was Besonderes – Berliner Zoo, Seidenstücker – nur anschauen, nicht anfassen!“ Deren Kinnladen sanken rasch und hörbar herunter.

Friedrich Seidenstücker, Von Nilpferden und anderen Menschen

Dass die Arbeiten Seidenstückers etwas Besonderes sind, wird schon im Vorwort des Buches deutlich betont. Ich fühle mich geneigt, Textpassagen eins zu eins zu übernehmen, da die Formulierungen der begleitenden Texte des Buches so schön präzise sind. Die Arbeiten Seidenstückers werden als „kollektives Gedächtnis“ bezeichnet, da er als Sonderling der damaligen Berichterstattung polarisierte, den Menschen eine offene Sicht der Dinge gewährte, ohne den nötigen Ernst zu verlieren.

Nicht zuletzt beeindruckt und inspiriert er mich dadurch, dass er sowohl den Drang verspürte, den Menschen einen nüchternen Eindruck über die Geschehnisse der Zeit zu vermitteln – seinen Trümmerfotografien oder den Streifzügen durch Berlin muss man Klarheit und Sachlichkeit bestätigen – als auch die spaßverliebten Bilder aus dem Berliner Zoo zu zeigen, deren Freude am Fotografieren als Virus auf einen selbst überzuspringen versucht.

Sogar die Aktfotografie Seidenstückers birgt eine gesunde Naivität, die mehr die freudige Prozedur des Schaffens beschreibt und deren Ergebnisse spontaner und erfrischender wirken als so viel Schund, den ich heutzutage ertragen muss.

Ich bewundere die Vielfältigkeit Seidenstückers, die sich grundlegend am Leben eines „normalen“ Menschen orientiert und die sich positiv abhebt von den Privilegien, die zeitgenössische (Presse-)Fotografen haben, die eine gute Basis oft schon rein des Jobs wegen in den Schoß gelegt bekommen.

Dies soll kein Angriff sein, ich möchte die Qualität ihrer Arbeiten daduch nicht schmälern wollen. Wen aber interessieren die Ereignisse der Nachbarschaft, wenn in Boston eine, nein, sogar mehrere Bomben hochgehen? Es ist eine ewige Diskussion, bei der Seidenstücker beweist, dass man nicht in die große weite Welt hinausziehen muss, um interessante Dinge zu entdecken.

Friedrich Seidenstücker, Von Nilpferden und anderen Menschen

Appollinaire hätte nie über Bennerscheid geschrieben, wenn es ihn nicht für ein Jahr in die Provinz nahe Bad Honnef gezogen hätte. ??Was mir bei Seidenstücker ebenfalls immer wieder besonders auffällt und nicht minder charakteristisch erscheint, ist seine präzise Bildgestaltung.

Als Art Director kam ich nicht umher, mich intensiv mit Gestaltungslehre, sprich Raumaufteilung und Gestaltungsrastern, zu beschäftigen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Herr Seidenstücker ähnlich theoretisch unterwegs war, aber seine Bilder passen durch die Bank weg in die einst gelernten Formeln.

Ich bewundere dessen Genialität, die mir stets beweist, dass neben inhaltlichen Qualitäten auch ein intuitives Gespür für Formales und Ästhetik plausibel und vor allem nötig für gute Bilder ist.

Jetzt habe ich mich wieder verleiten lassen, eher die Neugier auf die Person zu lenken, denn das Buch zu beschreiben. Aber ich fühle mich gut dabei, denn das ist es, was mich stets treibt. Zum Einen das Interesse an den Geschehnissen meiner Umgebung – egal wo ich mich befinde oder wo ich hingeführt werde – zum Anderen das Interesse an der reichhaltigen Qualität des Gedankenguts einzelner Menschen.

Eigentlich ist es egal, ob sie oder er fotografiert oder schreibt oder malt, wichtig für mich ist stets der Umgang mit sich selbst, der Welt wie sie empfunden wird und das, was daraus gezeigt werden kann. Früher habe ich gemalt und gezeichnet, später habe ich es auf dem Computer erzeugt, heute sehe ich es als „ehrlicher“ an, zu fotografieren.

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Elliott Erwitt, Dog Dogs*

Elliott Erwitt, Dog Dogs

Die Legende der Straße, Garry Winogrand, antwortete auf die Frage, ob er sich selbst einen Streetfotografen nenne, dass ihn diese Bezeichnungen völlig unberührt ließen. Man könne ihn bedenkenlos Tierfotograf nennen, denn schließlich fotografiere er auch Tiere. So wandere ich vom Tierfotografen Winogrand über den Tierfotografen Seidenstücker zum Tierfotografen Elliott Erwitt, den ich zuvor kurz erwähnt habe.

Elliott Erwitt zählt zu den einflussreichsten Fotografen der Geschichte. Als Mitglied und ehemaliger Präsident der wohl prestigereichsten Fotografen-Agentur Magnum hat er etliche einzigartige Zeugnisse von historischen Ereignissen und unvergessene Portraits von Stars gemacht.

Und wenn er auch noch so viele amerikanische Präsidenten abgelichtet hat, mag ich genau darauf nicht näher eingehen, denn mein Augenmerk liegt auf einer anderen Idee, einem anderen Werk, das er über mehr als fünf Jahrzehnte verfolgt hat: Hunde. Trotz der animalischen Hauptdarsteller ist es in meinen Augen ganz klar Street-Fotografie.

Street-Fotografie empfinde ich eben als vielgründige Chronik des alltäglichen Lebens. Erwitt fotografierte ja nicht anders als andere Fotografen Menschen in Alltag aufnehmen. Gut, er sprach von kleinen Tricks wie zum Beispiel einer Pfeife, die er nutzte, um die eine oder andere Reaktion zu provozieren, aber das stelle ich mir bei Menschen auch eher amüsant und nicht zielführend vor.

Der Hund ist ein seit etlichen Jahrtausenden in den meisten Kulturen unserer Erde geschätztes und vollwertiges Mitglied des menschlichen Alltags und es gibt reichlich Bildbände, in denen Hunde gezeigt werden, jedoch kenne ich nur den hier, der so sinnbildlich, menschlich und vor allem so umfangreich ist.

Das Buch nennt sich Dog Dogs* und ist im Verlag Phaidon erschienen. Es ist eigentlich „nur“ ein schlichtes Taschenbuch, die Aufmachung unspektakulär, die Fotografien stets randlos gedruckt und obendrein günstig zu ergattern.

Textlich ist nicht mehr zu finden als zwei kurze, doch interessante Statements und der Hinweis darauf, dass die Bilder elektronisch völlig unbearbeitet und unmanipuliert sind. Ich mag solch kleine Vermerke.

Erwitts ursprüngliche Idee für dieses Buch war, 1000 Hunde und eine Katze zu zeigen. Nun, es sind etwas weniger Hunde, dafür ein wenig mehr Katzen geworden, was aber letztendlich nicht relevant ist und den Spaß am Buch auch nicht mindert.

Wie Seidenstücker ist Erwitt ein Meister der formalen Bildgestaltung. Seine Bilder leben nicht nur durch inhaltliche Präsenzen, sondern auch durch die gekonnte Anordnung der Bildelemente, die schon dadurch einfache Situationen zu stets eigenen Szenen machen. Darüber hinaus genial empfinde ich die geschickte Verknüpfung mit inhaltlichen Details.

Erwitt ist ein intelligenter, humorvoller Mensch, dessen Witz in diesem Buch durch Kombination von menschlichen Emotionen und tierischem Verhalten Fotografien von unglaublicher Qualität hervorbringt.

Elliott Erwitt, Dog Dogs

Emotionen sind das, was ihm wichtig an der Darstellung der Hunde ist, sagt er. Er selbst hatte einen Hund, Teddy, eine fusselige, streunende Töle, aber überaus liebenswert und unglaublich faszinierend. Teddy legte eine menschlich anmutende Eigenständigkeit an den Tag, die Erwitt sehr faszinierte.

So besuchte Teddy auf eigene Faust regelmäßig die einiges entfernt wohnende Mutter Erwitts, durchquerte dabei zielsicher etliche Wohngebiete, überquerte Straßen und fand immer wieder mühelos zurück.

Sehr treffend und symptomatisch für das Buch finde ich seine Worte „Die Essenz dessen, was geschieht – das ist es, was von Bedeutung ist.“ Er schafft es auf diese Weise, auf über 500 Seiten den treuesten Begleiter des Menschen so zu potraitieren, zu dokumentiere, dass jegliche in Worte fassbare Form der Beziehung zum Hund in Bildern dargestellt ist.

Die Bilder, selbst inklusive der Abbildungen von Hunde-Statuen (ich habe das beim jungfräulichen Stöbern erst gar nicht richtig erkannt), geben einen weitreichenden Einblick in eine Welt, die einerseits sehr vertrauet, andererseits stets offen für neue Entdeckungen und ein Quell der Freude ist.

Elliott Erwitt, Dog Dogs

Einen weiteren, durchaus positiven Effekt hatte dieses Buch auf mich aber auch noch: Man fragt sich ja oft, wie manche Fotografen es schaffen, nur gute Bilder zu machen und man selbst bekommt nichts hin, was es nur annähernd so nah ans Feuer schafft.

Erstens ist es so, dass unsere „Götter“ uns nur eine Auswahl ihrer Arbeit zeigen und zweitens bin ich dankbar für dieses Buch, bei dem man aufgrund der hohen Anzahl der Bilder merken kann, dass auch ein Elliott Erwitt die gleiche Luft atmet wie wir.

Wie schon beschrieben, gewinnen manche Bilder erst an Qualität, wenn andere es ummanteln. Dies empfinde ich hier so. Bei dem einen oder anderen Bild aus dem Buch habe ich nämlich erleichtert aufgeatmet und festgestellt, dass ich meine eigenen Bilder nicht immer mit dem allgemeingültigen „Sensationsfaktormeter“ messen darf und das eine oder andere Bild unbemerkt ins Buch hätte mogeln können.

In dem Buch stecken eine Menge wahrlich sensationeller Aufnahmen, bei denen ich ungemein glücklich wäre, nur eines gleicher Güte zu schaffen, jedoch muss man sich vor Augen halten, dass dort auch über 50 Jahre Arbeit drin stecken. Die Gesamtsumme der Aufnahmen wird wahrscheinlich nie bekannt werden.

Demnach schenkt mir dieses Buch neben der Inspiration immer reichlich Mut, wenn ich mal eine Schaffenskrise habe und zeigt mir, dass Ausdauer ein nicht zu unterschätzender Faktor für gute Arbeit ist. Dieses Buch ist in meinen Augen ein Buffet an Inspiration, an dem man sich nicht sattessen kann.

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Fred Herzog, Photographs*

Fred Herzog, Photographs

Bei den bislang genannten Büchern sieht man fast ausschließlich schwarzweiße Fotografien. Es mag viele Ansichten geben, warum schwarzweiß für Street-Fotografie eine besondere Bedeutung hat: Die Zeit bot es anfangs nicht wirklich anders, Künstler haben sich so lange von der Werbung, der kurzlebigen Berichterstattung oder der privaten Knipserei distanzieren wollen und bis heute ist die Magie der Schwarzweißfotografie nicht von der Hand zu weisen.

Das besondere Empfinden grafischer Komponenten und die Konzentration auf inhaltliche Aspekte sind dabei nur zwei Punkte, die bei vorhandener Farbe an Wirkung verlieren können. Ich persönlich mag den Mangel dieser Information, ein (Gestaltungs-)Element, das ich in meiner Fotografie derzeit nicht integriere.

Nun ist die Welt für die meisten Menschen jedoch nicht farblos und auch in der Street-Fotografie gibt es eine ganze Reihe Fotografen, deren Arbeiten gerade von der Farbe leben und deren Arbeiten mich nicht minder beeindrucken.

Ein Pionier der farbigen Street-Fotografie ist der in Bad Friedrichshall geborene kanadische Fotograf Fred Herzog. Anfang der 50er Jahre wanderte er nach Kanada aus und begann, bei Spaziergängen Vancouver zu fotografieren. Heimlich, still und leise machte er dort Aufnahmen, die das Leben der Stadt dokumentierten.

Er legte Wert darauf, nicht entdeckt zu werden, die Situationen durch seine Anwesenheit nicht zu verändern, so wie Roland Barthes in „Die helle Kammer“* beschreibt, dass es nicht möglich sei, ein unbeeinflusstes Bild einer Person zu machen, sobald diese realisiert, dass eine Kamera auf sie gerichtet ist und dadurch gleich ihr Verhalten ändert.

Fred Herzog, Photographs

So wie er fotografierte, so wirken auch die Aufnahmen Herzogs: Nüchtern, beiläufig fotografiert, den Blick auf scheinbar Nebensächliches, Banales gerichtet.

Herzog fotografierte in einer Zeit, in der die klassische Street-Fotografie ihren Höhepunkt gerade hinter sich hatte. Ästhetisches Empfinden und urbaner Wandel haben ihm, wie wenigen anderen, die sich an Farbe herantrauten, die Möglichkeit geboten, das Genre innovativ zu erweitern.

Erst Jahre später, gen der 70er, gab es eine kollektivere Bewegung und dann auch die Anerkennung der Farbfotografen mit Vertretern wie Sternfeld, Shore oder Meyerowitz.

Das Buch Photographs* von Fred Herzog ist im Rahmen einer Ausstellung Ende 2010, Anfang 2011 bei c/o Berlin entstanden und im Verlag Hatje Cantz erschienen.

Es zeigt die Arbeit Herzogs, seine neue Heimat durchdringend und am Puls zu entdecken. Zu Beginn steigt das Buch mit fünf Schwarzweiß-Aufnahmen ein und ich war, als ich es bekam, erst einmal schwer irritiert. Herzog war also kein militanter Gegner der Schwarzweißfotografie. Im Gegenteil: Er achtete sie sogar sehr, zeigte sich beeindruckt und inspiriert.

Nach einem Vorwort des Herausgebers und einem Essay, das mir phasenweise einen Hauch zu suggestiv geschrieben ist, taucht man aber direkt ein in die Straßen Vancouvers. Herzogs langjährige Dokumentation reicht dabei über viele Dinge der üblichen Street-Fotografie hinaus. Mir kommt jedes Betrachten des Buches vor, als liefe vor meinem geistigen Auge ein Film ab, als könne ich seine Streifzüge mitverfolgen.

Fred Herzog, Photographs

Ein Blick über die Dächer, ein Blick in ein Fenster, eine Seitenstraße, eine Kreuzung, der Friseur, Zeitungsjunge und so weiter. Man sieht einige Stellen der Stadt öfter, teils aus veränderten Blickwinkeln und man beginnt sofort zu suchen. Das Faszinierende daran ist die Fassbarkeit der Bildinhalte. Ich kann anhand seiner Bilder glauben, einen realen Eindruck seiner Zeit und seines Raumes gewonnen zu haben.

Ich tue mich aber schwer, das Buch und dessen Bilder detailierter zu beschreiben, weil eben diese Bilder eine unglaubliche visuelle Wirkung, eine Verschmelzung unserer jetzigen Wahrnehmung und der damaligen Zeit haben, die schwer in Worte zu fassen ist.

Ich bin kein Autor, ich bin nur ein Fotograf, der seine Gedanken mitteilt. An mir prallen viele vergleichbare Aufnahmen ab wie Wasser an modernen Fasern, weil mir dort, wie Herzog es schafft, die Authentizität der Szenerien, die mitschwingende Skurrilität oder die Grätsche, vermeintlich belanglose Details zu integrieren, einfach fehlen.

Schon auf dem Cover sah ich einen am Kinn blutenden Mann, eine Zigarette in einer verbundenen Hand haltend und seinen von Hämatomen gezeichneten anderen Arm nach etwas, vielleicht nach dem Bus, winken. Ein älteres Mütterchen, dahinter zwei zwielichtige Gestalten, die Szene aufgeräumt, wohl früh am morgen. Es erinnert mich an den Pfützenspringer von Henri Cartier-Bresson, dessen Ende der Geschichte ich auch gern gehört hätte.

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Jedes der vier Bücher macht auf seine eigene Art neugierig, jedes der Bücher hat seinen Fotografen, der verantwortlich für diese Bilder ist. Interessant sind nicht immer nur die lautesten Bilder, interessant sind eben auch die Menschen hinter der Kamera, ihre Geschichte und deren Geschichten.

Ich kaufe mir nicht viele Bücher, weil sie es nicht wert sind, lange Zeit missachtet zu werden, weil man zu große Mengen von ihnen im Schrank stehen hat und den Milben trotzen lässt. Fotobücher haben sich zwar zu einem Sammelobjekt entwickelt, bieten jedoch meist viel, viel mehr als einen schönen Rücken oder einen monetären Wert. Viel Spaß beim Entdecken.

* Das ist ein Affiliate-Link zu Amazon. Wenn Ihr darüber etwas bestellt, erhalten wir eine kleine Provision, Ihr zahlt aber keinen Cent mehr.


kwerfeldein – Fotografie Magazin

 
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Fantastische Bildbände zur Straßenfotografie, Teil 1

13 Mar

Nachdem ich mich 2010 vermehrt von der Landschaftsfotografie ab und der Straßenfotografie zuwendandte, wuchs auch mein Interesse an Bildbänden. How-to-Bücher wollte ich keine mehr lesen, sondern mir direkt die Arbeiten urbaner Fotografen ansehen und mich daran erquicken. Heute stelle ich im Rahmen unserer Buchwoche ein paar davon vor, weitere Vorstellungen werden folgen.

Ich finde es hochspannend, sich einem Genre der Fotografie zu verschreiben und dann auf globale Bewegungen hin zu untersuchen. Was haben andere Fotografen und Fotografinnen bisher erschaffen? In welcher Zeit und Kultur wurde gearbeitet? Welche Stilmittel genutzt?

All das sind Fragen, auf die mir Bildbände in gewisser Weise Antworten geben können. Und das auf ihre ganz langsame, natürliche Art, die sich doch so von der Hektik des Netzes unterscheidet. Außerdem: Ich fahre gern mit den Fingerspitzen über Fotografien und spüre die Schwere eines Buches mit Freude. So möchte ich mit dem ersten Band beginnen, dem ich ganz sicher den Klassiker-Status zusprechen kann:

 

„Streetphotography Now“* | 18,95 € | 27,2 x 23,9 x 2,3 cm

Streetphotography Now

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Wenn es ein Buch gibt, das mich beim ersten Ansehen gleich erschüttert und bewegt hat, war es „Streetphotography Now“. Als ich es zum ersten Mal in Händen durchblätterte, musste ich mehrmals pausieren, denn die massive Dichte der Bilder überforderte meine Aufnahmekapazität um ein Vielfaches. Selten war ich so gezwungen, mir mehrere Wochen Zeit zu nehmen, um einen Fotoband kennenzulernen.

Das Buch wirkt bis heute nach und es wird noch für eine lange Zeit eine Quelle der Inspiration bleiben.

Auf 240 Seiten haben die Autoren Sophie Howarth und Stephen McLaren einen Bildband herausgegeben, der mit dem Wort „umfassend“ betitelt werden kann. Insgesamt 46 zeitgenössische Straßenfotografen werden darin inklusive Kurzbiografie vorgestellt und satte 301 Bilder laden mehr als eindrucksvoll dazu ein, in die Diversität und Leuchtkraft einzutauchen und die Zeit zu vergessen.

Magnum-Größen wie Bruce Gilden, Martin Parr und Alex Webb gehören wie selbstverständlich zum Kanon, jedoch gibt es auch zahlreiche Fotografen und Fotografinnen, die der großen Öffentlichkeit bis zur Erstauflage kaum bekannt waren. Außerdem beschränkt sich „Streetphotography Now“ nicht nur auf europäische und amerikanische Künstler, sondern besucht mit Bruno Quinqet Tokyo, mit dem nicht unbekannten Herren Titarenko St. Petersburg und mit Musem Wasif Dhaka, um nur ein paar herauszustellen.

„Streetphotography Now“ ist in seinem breitgefächerten Umfang ein weiterer Beweis dafür, dass die Straßenfotografie noch lange nicht tot ist, sondern – und das mag im Buch selbst zu kurz kommen – auch durch das Internet eine Renaissance erlebt, global schwierigen Rechtslagen trotzt und Großartiges vollbringt.

Auch heute suche ich mir gern bei einer Tasse Kaffee einen Fotografen heraus und betrachte dessen Bilder. Das reicht auch völlig aus, denn bei Interesse befinde ich mich zehn Minuten später auf einer Erkundungsreise im Netz, um alle anderen publizierten Fotos meiner Entdeckung zu bestaunen.

 

„Stern Fotografie: Bruce Gilden“* | 18 € | 27,8 x 52,7 x 1,4 cm 

Bruce Gilden

Bruce Gilden

Obwohl die Art und Weise, mit der Bruce Gilden bis heute Menschen auf der Straße fotografiert von einem Großteil der Fotografie-Szene (inklusive Straßenfotografen) kritisch beäugt wird, bin ich bekennender Adorator (sic!) des US-Amerikaners. Das klingt pathetisch. Ist es auch. Ich liebe diesen Kerl.

Um mir seine Aufnahmen schön groß zu gönnen, kaufte ich mir Ende des zurückliegenden Jahres die 64. Ausgabe der Reihe „Stern Fotografie“. Diese deckt Gildens Portraits Krimineller, Gangster und Mafiosi ab, die ebenso schonungslos abgebildet werden wie diese ihr Leben wahrscheinlich unterhalten.

Gilden, Soziologe und selbst Sohn eines Kriminellen, kennt das Milieu, in dem er sich aufhält. Und vielleicht hat er auch deshalb den Mut, diese Menschen ohne Vorwarnung direkt anzublitzen und sich in potentielle Gefahr zu bringen. Seine Bilder hingegen erklären die Portraitierten nicht zu Helden, sondern konfrontieren den Betrachter in aller Härte mit Narben, Eigenheiten und Gewaltbereitschaft der Szene.

Nahezu intim wirken die Bilder, die wie ein Ausdruck der Worte Robert Capas – If your pictures aren’t good enough, you’re not close enough – wirken. Und „close enough“ bin ich auch als Betrachter, denn in ihrer Größe von knapp A3 (pro Seite!) kann ich keine sachliche Distanz aufbauen, sondern werde beinahe ins Geschehen hineingezwungen.

Bei Fotografien, die nur einseitig gedruckt wurden, ist die gegenüberliegende Seite schwarz, was den bedrückenden Charakter des Bandes unterstützt. Des Weiteren wurde auf Seitenzahlen und Bildunterschriften gänzlich verzichtet und diese auf die letzten beiden Seiten des Bandes verfrachtet, um den Fotografien ihren Platz einzuräumen.

Es sind sicher keine angenehmen Bilder, die uns Bruce Gilden in diesem Band vor Augen hält. Aber sie erzählen von einem Teil unserer Gesellschaft, der heute gern verdrängt wird und höchstens bei einem Skandal kurz hochstilisiert wird. Ich möchte jedem, der sich mit dieser Realität befassen möchte und ein wenig tolerant gegenüber Gildens Ansatz ist, empfehlen, sich diesen Bildband zuzulegen.

 

„Henri Cartier-Bresson: Meisterwerke“* | 6,95 € | 18,8 x 14,4 x 1,2 cm

Henri Cartier-Bresson: Meisterwerke

Henri Cartier-Bresson: Meisterwerke

Der erste Bildband, den ich zur Straßenfotografie in den Händen hielt, war – so wollte es der Zufall – ein Geschenk. Damals war ich nur flüchtig mit dem Sujet vertraut und das Büchlein staubte lange Zeit im Schrank vor sich hin.

Seitdem mir die Straßenfotografie 2010 vollständig den Kopf verdrehte, zupfte ich es hin und wieder aus der hintersten Buchreihe, um darin zu schmökern. Dass ich ein fotografisches Schmuckkästchen in der Hand hielt, wurde mir sofort bewusst und es scheint, als ob die Fotos mit jedem Ansehen an Attraktivität gewinnen.

Auf 128 Seiten präsentiert der Verlag Schirmer/Mosel insgesamt 52 Schwarzweißaufnahmen des Meisters Cartier-Bresson. In chronologischer Reihenfolge von 1932 bis ’99. Jedoch beginnt die Reise zweimal von vorn: Einmal mit Bressons Straßenfotos und das andere Mal mit dessen Portraits. Diese Fotos sind jeweils „einseitig“ abgebildet: Die Gegenseite bleibt, wie oben zu sehen ist, stets weiß.

Der Bildband startet mit einem zwölfseitigen, lesenswerten Essay des Straßenfotografen selbst, datiert auf 1952 und mit dem Titel – wer hätte es gedacht – „Der entscheidende Augenblick“. Am Ende des Büchleins schließt die Klammer eine kurzbiographische Übersicht.

Bresson war seinerzeit überzeugt davon, dass Fotografen seines Genres Technik soweit wie möglich außen vor lassen und die zu Fotografierenden nicht damit belästigen sollten. Bressons Begeisterung für natürliches Licht und Authentizität schlägt sich – meiner Meinung nach – in sämtlichen Straßenaufnahmen sowie Portraits nieder.

Für bislang mit Bresson Unbekannte wird es eine Überraschung sein, dass der Mitbegründer von Magnum Photos auch Ikonen seiner Zeit ablichtete. So findet der geneigte Bewunderer unter den abgebildeten Aufnahmen des Bandes eingängige Portraits von Monroe, Sartre, Picasso und vielen anderen.

Auch, wenn ich vor Jahren nicht so recht wusste, was nun mit diesem Bändchen anzustellen sei, ist es mir heute doch sehr ans Herz gewachsen. Einziger Wermutstropfen: Der Preis von 6,95 € ist unschlagbar, jedoch hat sich der günstige Einband mit der Zeit recht schnell gelöst.

 

„Saul Leiter (Photofile)“* | 12,55 € | 12,3 x 19 x 1,3 cm

Saul Leiter

Saul Leiter

Die Fotografien von Saul Leiter entdeckte ich, als Jürgen Bürgin hier bei uns im Magazin eine Buchrezension über den Künstler publizierte. Diese Bilder wirkten einige Zeit nach, sodass ich mir ein paar Wochen später den hier vorgestellten Bildband zulegte. Ich traute mich noch nicht, die Retrospektive zu kaufen, denn ich war mir nicht sicher, ob ich mich in diese Fotos tatsächlich verlieben könnte. Eines Besseren belehrt, das wurde ich.

Heute zählt dieser Bildband zu meinen liebsten überhaupt. Leiters Art, zu fotografieren hat mich geprägt und das vor allem deshalb, weil sie mich tief berührt und eigentlich nicht mehr so ganz in Ruhe gelassen hat.

Das Buch „Saul Leiter“ ist Bestandteil der derzeit 24-teiligen Photofile-Reihe von Thames & Hudson, die sich damit schmückt, Fotos der weltbesten Fotografen in guter Qualität für jedermann zu produzieren. Denn nicht selten kosten solche Schmöcker mehr als der Studentengeldbeutel erlaubt. Somit ist die Photofile-Reihe ein wahres Vergnügen für jeden Interessierten.

Doch zurück zum Bildband. 144 Seiten umfassen eine Reihe von insgesamt 64 Fotos. Auf der Coverinnenseite steht, dass 38 davon in Farbe sind, nachgezählt habe ich nicht. Aber vom Gefühl her scheinen es bei jedem Mal mehr zu werden; wahrscheinlich deshalb, weil die Farbfotos etwas ganz Besonderes sind.

Der heute 89-jährige Saul Leiter zog 1946 nach New York, um Maler zu werden. Dieser Absicht folgte er auch, jedoch begann er bald, die Kamera als verlängerten Arm zu nutzen und fotografierte – zur Nachkriegszeit unter Künstlern verpönt – auch auf Farbfilm.

Leiter selbst hatte nicht das geringste Interesse daran, sich selbst als Meister der Straßenfotografie darzustellen, denn er verstand sich nach wie vor als Maler. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Entdeckung seiner außergewöhnlichen Bilder noch recht jung ist und dieser Mensch über 40 Jahre lang ohne Rampenlicht auskam. Dies sah er als ein großes Previleg an, wie Jürgen Bürgin berichtete.

Seine ungewöhnliche Art, zu fotografieren wurde nicht minder von seinem Hang zur Malerei und der Freundschaft zu abstrakten Expressionisten, die er in New York kennenlernte, beeinflusst. Wenn ich mir seine Bilder anschaue, dann wundere ich mich jedes Mal, wie Leiter eigentlich seine Motive komponiert. Er hat einen ungemein scharfen Blick für Linien, Menschen und vor allem: Farben.

Leiter präferierte, durch vereiste oder von Kondenswasser beschlagene Scheiben zu fotografieren und mit Spiegelungen den Betrachter zu verwirren. Jedoch sind die Bilder stets so gehalten, dass sie nicht zu sehr abstrahieren, sondern – zumindest mir – stets der Kontext klar bleibt. Außerdem sind im Zentrum seiner Bilder: Menschen im urbanen Kontext.

Desweiteren gefallen mir Leiters Bilder deshalb, weil er sich ständig einen feuchten Kehricht um Fotoregeln scherte und recht häufig Menschen im Bild frech an irgendwelchen Stellen abschnitt. Bestes Beispiel: „Red Umbrella“. Ein Mensch mit rotem Schirm steht an einer zugeschneiten Straße, die sich in einer Rechtskurve um den Menschen schlängelt. Die Person und der Schirm sind jedoch nur angerissen, gut zwei Drittel des Menschen ließ Leiter einfach weg. Und: Lässt mich als Betrachter nach mehr sehnen.

Solche Spielereien sorgen dafür, dass ich diese Bilder nicht vergessen kann. Denn – zwar nicht immer, aber oft – widersetzen sie sich meinen Sehgewohnheiten und verhaken sich tief im Langzeitgedächtnis.

Im Buch werden die Fotos (meist) einseitig gedruckt, auf den Gegenseiten finden sich Titel und Jahr der Aufnahme. Das Büchlein beginnt mit einem erweiterten und wunderbar zu lesenden Essay des Historikers und Fotografen Max Kozloff.

Ich darf sagen, dass ich kein Buch so oft studiert habe wie dieses. Gerade, weil Leiter so einmalig fotografierte, habe ich bis heute nicht die geringste Langeweile beim Betrachten seiner Werke empfunden. Letzte Woche habe ich mir übrigens die Retrospektive bestellt. Jetzt bin ich mir sicher: In Leiters Fotografien habe ich mich verliebt.

* Dies ist ein Affiliate-Link zu Amazon. Wenn Du darüber etwas bestellst, bekommen wir einen kleine Provision, Du bezahlst aber keinen Cent mehr.


kwerfeldein – Fotografie Magazin

 
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