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Posts Tagged ‘Augenblicks’

Von der Seltsamkeit des Augenblicks

30 Oct

In den Anfangsjahren der Fotografie konnten sich nur wenige Menschen die technische Ausrüstung zur Produktion von Fotografien leisten. Umso Erstaunlicheres findet man, wenn man Bilderarchive aus dem 19. Jahrhundert durchforstet. Nicht wenige Fotografien regen zum Schmunzeln, Grübeln oder Verstörtsein an. Einige fotografische Seltsamkeiten und Seltenheiten sowie deren Hintergrund sollen hier vorgestellt werden.

Seit der Erfindung der Fotografie stand ihre Beziehung zur Kunst im Vordergrund. Manche Zeitgenossen fanden jedoch die Vorstellung, dass Fotografie Kunst sein könne, absurd. Sie forderten, dass die Fotografie auf die Darstellung realer Gegebenheiten beschränkt bleiben sollte. Es scheinen sich nicht alle Fotografen daran gehalten zu haben, denn eine Vielzahl an Bildern belegt, dass unsere Vorfahren dieser Kritik durchaus mit Humor begegneten.

Kopflose Portraits

Die Entwicklung der Technik lud dazu ein, die Grenzen der Fotografie in humoristischer Art zu erproben. Wunderbare Beispiele sind die kopflosen Portraits, insbesondere dann, wenn liebevoll mit der Hand nachretuschiert wurde.

Ein Mann trägt seinen Kopf auf einem Tablett.

Versteckte Mütter

Zum Gruseln regt eine andere fotografische Reihe an, die Kinder portraitiert. Manchmal erkennt man erst auf den zweiten Blick, dass sich hinter den Kindern eine vermeintlich mystische Gestalt versteckt. Es handelt sich jedoch nicht um Geister, sondern um Mütter und Kindermädchen, die mit einem beherzten Griff die Haltung der lebhaften Kinder fixierten, sodass diese trotz der langen Belichtungszeit scharf im Bild erscheinen. Linda Nagler hat Bilder der versteckten Mütter in einem wunderbaren Bildband* zusammengetragen.

Zwei Zwillinge werden fotografiert.

Versteckte Portraits

Ein relativ unerklärtes Phänomen ist auch die Vielzahl der Fotografien, die den Rücken oder den Hinterkopf von Personen zeigen. Gerhard Richter war demnach nicht der erste, den die Rückseite einer Person besonders entzückte. In einigen theoretischen Abhandlungen wird davon ausgegangen, dass die Frisuren der jeweiligen Personen zur Schau gestellt werden sollten.

Frauen sitzen vor einer Wand.

Vergleichbar verstörend wirken Fotografien, auf denen die Portraitierten das Gesicht verhüllen. Auf manchen Bildern wird das Gesicht durch Taschentücher verdeckt. Man mag einen kollektiven Schupfenanfall vermuten.

Auf manch anderen Bildern verdecken Damen ihr Gesicht mit einem Papier. Es wird in den kunsthistorischen Schriften gemutmaßt, dass es sich um Prostituierte handelt, die nicht erkannt werden sollten. Wahrscheinlicher ist jedoch die Darstellung trauernder Damen.

Drei Frauen verstecken ihr Gesicht.

Fotografie und Wissenschaft

Doch nicht hinter allen seltsam wirkenden Fotografien verbirgt sich ein humoristischer Hintergrund. Der Aufstieg der kommerziellen Portraitfotografie ab Mitte des 19. Jahrhunderts führte auch dazu, dass das Portrait als künstlerisches Mittel zur Erkundung der menschlichen Psyche eingesetzt wurde.

Man war damals der Ansicht, dass eine Fotografie ein Hilfsmittel darstellte, um den Charakter eines Menschen abzubilden. Darüber hinaus wurden medizinische Prozeduren dargestellt, die Medizinern das Nachvollziehen der Durchführung (vermeintlich) therapeutischer Prozeduren erleichtern sollte.

Eine Frau betet.

Hugh Welch Diamond hat im Rahmen seiner Tätigkeit in der Nervenheilanstalt in Surrey Patienten portraitiert, die zur wissenschaftlichen Illustration psychischer Störungen dienten. Den Hintergrund zu den jeweiligen psychiatrischen Phänomenen kann man heute nur noch mit dem beiliegenden medizinischen Text verstehen.

Die diagnostische Güte der Fotografien, wie beispielsweise das nachfolgende Bild mit dem Titel „Melancholie im Übergang zur Manie“ war auch zum damaligen Zeitpunkt bereits fraglich. In einer Aufsatzreihe von John Conolly wird erklärt, dass das Stirnrunzeln der dargestellten Patientin den depressiven Zustand verdeutlicht, „als ob sie begönne, die Verschwörung zu verstehen und einige ihrer Feinde zu identifizieren“.

Conolly war demnach ein Vertreter der Ansicht, dass die Fotografie einen Beitrag zur Behandlung der Patienten leistet. Nichtsdestotrotz stellt die Fotografie, ähnlich wie Texte aus der Medizingeschichte, einen Beleg für die Entwicklung der Wissenschaft über die Zeit hinweg dar.

Eine Frau sitzt vor einem Vorhang.

Medizin-historische Fotografien

Die Fotografie diente auch dazu, Menschen mit angeborenen Körperdeformationen abzubilden. Diese Fotografien wurden jedoch als Kabinettkarten in Umlauf gebracht und vermarktet.

Auf der folgenden Fotografie ist Myrtle Corbin abgebildet, die mit vier Beinen geboren wurde. Bereits im Alter von einem Jahr gewährte ihr Vater gegen einen Geldbetrag schaulustigen Nachbarn einen Blick auf die junge Myrtle. Später trat sie im Zirkus auf und gewann zunehmend an Popularität, die ihr auch finanzielle Unabhängigkeit in jungem Alter sicherte.

Ein Mädchen mit vier Beinen.

Viktorianische Post-Mortem-Fotografie

Verstörend wirken auch die heutzutage eher unüblichen Post-Mortem-Fotografien der viktorianischen Epoche, die als Andenken dienten. Eher selten fotografierte man den Verstorbenen im Sarg. Man versuchte eher, eine natürliche Szene zu kreieren, damit die Erinnerung an den Lebenden ungetrübt erhalten blieb.

Auf manchen Fotografien, wie der unten stehenden, ist die Illusion so echt, dass man nicht glauben kann, dass die links sitzende junge Frau kürzlich verstarb. Was uns heute seltsam erscheint, war zur damaligen Zeit ein wichtiges Werkzeug zur Begleitung des Trauerprozesses.

Über den wahren Hintergrund zu diesen Fotografien wird teilweise spekuliert, denn nicht jede Fotografie, die Merkmale einer Post-Mortem-Fotografie trägt, bildet tatsächlich Verstorbene ab. Als klassisches Indiz für eine Post-Mortem-Fotografie wird eine hölzerne Standhilfe erachtet. Vorstellbar ist jedoch auch, dass diese den lebenden Portraitierten dabei half, die lange Belichtungszeit ohne Verwacklen zu überstehen.

Wer sich weiter über Post-Mortem-Fotografie informieren möchte, kann gern das online verfügbare Thanatos-Archiv oder eine kürzlich erschienene Publikation* des Archivs studieren.

Zwei Frauen sitzen am See.

Als diese Fotos entstanden, steckte die Fotografie noch in der Entwicklung. Die Vielfältigkeit der fotografischen Ziele und verwendeten Mittel regt in jedem Fall zum Staunen und Nachdenken an. Wer ein bisschen neugierig geworden ist, kann in einem Sammelalbum alter Fotografien bei Pinterest nachforschen.

Lesefreudige werden in einem Buch* von Jennifer Tucker interessante Informationen über Fotografie in der viktorianischen Epoche finden.

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kwerfeldein – Fotografie Magazin | Fotocommunity

 
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Die Unschuld des Augenblicks

22 Feb

Der Begriff „Mädchenfotografie“ schleicht sich zunächst ins Bewusstsein, betrachtet man Tina Sosnas Fotoarbeiten das erste Mal. Und sie ist natürlich auch ein Mädchen und warum sollten ihre Fotos nicht auch genau davon sprechen?

Sie ist jetzt zwanzig Jahre alt. Vor vier Jahren begann sie, die Welt um sich herum mit der Kamera einzufangen, wie so viele andere auch. Sie betrachtete Details, die von ihrer Umwelt oft übersehen wurden oder hielt kleine Momente fest, die für sie besonders wichtig waren.

Es ist, als würde man das Tagebuch eines Mädchens öffnen und ihre Träume finden. Träume, die noch so leicht sind und von einer unbeschwerten Jugend berichten; einer Jugend, die manch andere ihres Alter schon längst verloren haben.

Und selbst die Schwere, wie sie der Tod mit sich bringt, ist auf ihren Bildern zart und still wie ein unausgesprochenes Geheimnis.

© Tina Sosna

Ich wuchs zwischen wunderschöner Natur auf und musste lernen, mich mit mir selbst und den Dingen, die mich umgaben, zu beschäftigen. Dadurch schuf ich meine eigenen kleinen Welten, in denen ich Rettungsboote aus Walnussschalen für kleine Frösche baute und als Schneewittchen im Apfelbaum unseres Gartens lebte.

Ihre Bilder unterscheiden sich dennoch von denen vieler anderer Mädchen. Sie tragen eine eigene Sprache und erzählen ihre Geschichte, die sich wie ein Puzzle zusammensetzen lässt. Wir lauschen diesen Bildern wie Filmsequenzen oder Sätzen aus einer Welt, die wir nicht kennen, die unberührt scheint. Sie lässt uns teilhaben an ihren Empfindungen, schutzlos.

© Tina Sosna

Irgendwann musste ich jedoch feststellen, dass sich in meinem Kopf ganz andere Dinge abspielten, als in denen der anderen. Ich dachte über Kleinigkeiten nach und zerbrach mir den Kopf darüber oder versank zwischen Musik, Filmen oder der Vergangenheit.

Ich wollte den Menschen zeigen, wie unfassbar wichtig die kleinen Dinge sind und sie dazu inspirieren, auch öfter als zwei Mal hinzusehen und achtsamer zu sein.

Und ich möchte dieser Protagonistin folgen, mit ihr die Lieblingsstellen aus Gedichten unterstreichen, neue Worte erfinden und gemeinsam den Atem des Waldes spüren, hinter Bäumen verstecken, nach Geheimnissen suchen und sich wundern –

© Tina Sosna

Über all das Schöne, aber auch das Unbekannte, das uns dort draußen, weit weg von lauten und grellen Lichtern des städtischen Lebens, umgibt.

Mit ihren Bildern träume ich mich noch einmal in die Unschuld des ersten Augenblicks. Ich denke verschwommen an die vergangenen Sommer, Erinnerungen tauchen auf, Farbschicht um Farbschicht blättert ab und hinterlässt ein wohliges, wärmendes Gefühl.


kwerfeldein – Fotografie Magazin

 
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Die Bedeutungslosigkeit des Augenblicks

02 Jan

Es gibt Augenblicke, die bemerkt man nicht und es gibt Menschen, die sie bemerken und festhalten. Dann entstehen Bilder, die nicht auf den ersten Blick wirken. Man schaut vorbei, lässt sich ablenken, gibt den Bildern nicht die Zeit, die sie brauchen. Erst beim Wiederdraufschauen können sie sich entfalten wie ein Schmetterling aus dem Kokon.

Ich mag Bilder, die nicht um meine Aufmerksamkeit buhlen, es ist ein bisschen wie mit den Menschen: Diese Bilder tragen keinen Glamour oder Glanz. Sie sind immer ein bisschen unter Sand begraben und erst derjenige mit einem Entdeckerherz schiebt die Staubschicht hinfort und befreit sie aus ihrer Lethargie.

Solche Bilder entdeckte ich im Fundus meines Freundes, der ebenfalls fotografiert. Oft gehen wir gemeinsam raus, reisen zusammen und bringen immer ganz andere Blickwinkel unserer Umgebung mit. Dabei könnten wir nicht unterschiedlicher sein: Während ich detailverliebt mit dem Objektiv auf dem Boden klebe, entdeckt er in der Gänze surreale, merkwürdige Momente, die mir oft verborgen bleiben.

Da ist der Blick aus unserem Fenster in den Hof. Tentakelartige Schatten umgreifen den kinderleeren Sandkasten. Eine stille Unruhe geht in mir vor, ich kann den Gedanken nicht ganz greifen.

Linien, die Straßenzüge, Fenster und Türen formen. Ein Mann in einem Rollstuhl. Etwas stimmt nicht. Ich betrachte es genauer und sehe es dann, mir fröstelt beim Gedanken, der sich anschickt, sich aufzubauen.

Die Bilder erfassen einen Moment, doch der Betrachter zieht seine Schlüsse. Er kann darin die Nuance einer Unmöglichkeit entdecken. Nichts ist verändert, geschönt oder hinzugefügt.

Ganz allein der Gedankenschatz, die Fantasie des Betrachters ist notwendig für das, was sich daraus entwickeln kann. Das Fotografierte ist dabei wie eine Schablone, die Möglichkeit, etwas zu sehen, das nicht da ist.

Der wolkendurchwirkte Himmel dient als Hintergrund. Wieder Linien, ein Wirrwarr, das Ordnung schafft. Ich erinnere mich an diesen Ort; weiß, wie ich dort gestanden habe. Doch die Thronende, die mit einer Selbstverständlichkeit über all das wacht, hatte ich nicht bemerkt.

Erst zuhause, als das Bild an unserer Wand hing, bemerkte ich sie mit einem Aufschrei: „Da ist ja… hast du die gesehen?“ Er quittierte es mit einem süffisanten Lächeln.

Es macht mir Freude, Bilder dieser Art und Form zu betrachten. Sie geben nicht alles preis, sind immer auch ein bisschen Geheimnis. Standbilder eines Films, der erst noch geschrieben werden muss.

Jedes Jahr kommen ein oder zwei neue hinzu. Nicht, weil sie müssen, sondern weil diese Momente da sind und im richtigen Moment festgehalten werden. Ein Film, der über Jahre geschrieben wird und vielleicht nie ein Ende haben wird.

~

Wer ebenfalls auf Entdeckertour gehen möchte, dem sei dieses Blog empfohlen.


kwerfeldein – Fotografie Magazin

 
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