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Ein Plädoyer für das fotografische Flanieren

28 Feb

Ein Beitrag von: Eric Pawlitzky

Nichts provoziert das Auge mehr als eine fremde Landschaft, ein fremder Mensch, das Unbekannte. Und nichts ist langweiliger als Sehenswürdigkeiten zu fotografieren. Also fährt man am besten dort hin, wo die Begegnung mit Sehenswürdigkeiten eher nicht droht, z.B. nach Osteuropa.

Das Risiko, Bekanntem zu begegnen, kann man weiter reduzieren, indem man einen geografischen Zufallsgenerator zwischenschaltet. Das habe ich im Sommer 2012 getan, indem ich mit Frau und jüngstem Kind (zwei hervorragende Entschleunigungsfaktoren) den Versuch unternahm, einmal mit der Eisenbahn entlang der EU-Ostgrenze von Tallinn nach Constanta zu reisen.

Man kommt so etwa nach Paldiski, Tartu, Muszyna, Galati oder St. Gheorghe. Das sind Orte, an denen ich nie zuvor gewesen bin. Und das sind Orte, die von den Reiseführern bestenfalls einen Dreizeiler an Aufmerksamkeit erhalten. Man kommt also an und ist wunderbar planlos.

© Eric Pawlitzky

Fotografisch ist das eine Herausforderung. Klar, man könnte auf einer solchen Reise ohne Ende Bahnhöfe, Lokomotiven, Leute im Zug fotografieren, wenn man sechs Wochen an jedem dritten Tag Eisenbahn fährt oder immer das Rathaus oder den Blick aus dem Fenster nach dem Aufwachen am Morgen.

Mein Ziel aber war es, mein Sehen zu schulen, die Flüchtigkeit der Aufenthalte so gut wie möglich zu nutzen. Also in vergleichsweise kurzer Zeit Dinge zu finden, die ein Bild wert sind, Menschen, deren Sprache man nicht kennt, zu einem Portrait zu überreden (mit Gesten und freundlichen Blicken), etwas Typisches finden, den Klischees trotzen oder genau denen auch mal freien Lauf lassen.

Das habe ich zuvor in Berlin geübt. An einem verregneten Sommertag hatte ich die Idee, von Flughafen zu Flughafen zu laufen, von Schönefeld nach Tegel. Das sind etwa 30 km, die man in gut sechs Stunden schaffen kann. Also mit dem Lineal einen Strich über den Stadtplan gezogen und los.

Und siehe da, ich kam durch Straßen, deren Existenz mir völlig unbekannt war. Fast schon sprang mich die Langeweile an. Dann hatte ich meine Geschichte. Ein geradezu spöttisch wirkendes Plakat – in der gesamten Stadt verteilt. Das habe ich dann fotografiert mit dem umgebenden städtischen Raum, immer wieder.

© Eric Pawlitzky

Dann fiel mir auf, wie viele Gemüsehändler es auf den Fußwegen gibt, wie interessant die Spuren der fünfziger Jahre sind.

© Eric Pawlitzky

Das war die Fingerübung für die Reise durch immerhin sieben Länder. Ich wollte etwas über Osteuropa erzählen, das über einen klassischen Reisebericht hinausgeht. Ich suchte nach Bildern, nicht nach Motiven.

Das war der Versuch, die Umgebung anzusehen, als wäre sie eine Sammlung interessanter Grafiken. Die musste man eigentlich nur entdecken und ablichten. Ich wollte nicht zuerst erzählen, ich wollte zuerst die Bilder. Und siehe da – mit den Bildern kamen auch die Geschichten.

© Eric Pawlitzky

3.000 km und 3.000 Auslösungen später eine Ausstellung. Die Eindrücke waren noch frisch, für eine wirkliche Quintessenz fast zu früh. Ich habe 200 Bilder gezeigt – verpackt in zwanzig Schachteln, die die Besucher öffnen konnten, in denen man stöbern durfte.

Die Idee: Die Betrachter ein wenig verwirren und keine Sortierung nach Ländern oder Chronologie, sondern aus den Bildern Geschichten und Zusammenhänge filtern, die mit den Orten oft nur noch indirekt zu tun haben. Mit Themen, denen man unterwegs begegnet ist und die sich im Laufe der Reise oder erst danach als Erzählstrang verdichten.

© Eric Pawlitzky

Jede Schachtel eine Geschichte, „Black Box“ im doppelten Sinne. Und die Einladung zu den Geschichten jeweils ein großformatiger Print an der Wand der Galerie. 20 Einladungen, die Schachteln aufzumachen und die Geschichten anzusehen.

Das hat funktioniert: Die Leute waren neugierig und es gab zu einigen Schachteln, z.B. zu denen mit den Themen „Waiting Europe“ oder „Gott“ regelrechte Warteschlangen.

© Eric Pawlitzky

Warum dieses Plädoyer für das fotografische Flanieren? Bei einer klassischen Bildreportage reduzieren sich die Bilder oft auf Illustrationen des Erwartbaren. Der Fotograf hat die Geschichte im Kopf und sucht nach einer visuellen Umsetzung. Aber warum nicht auch einmal umgekehrt vorgehen und den Bildern den Vorrang geben?

Die Ausstellung „Tallinn – Constanta – 3.000 km Europa“ ist vom 28. Februar bis zum 5. April 2014 in der Galerie im Stadtspeicher des Jenaer Kunstvereins zu
sehen.


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